Tochter sucht Draht zum Vater: Sofia Kokkali in Jacqueline Lentzous Spielfilmdebüt "Moon, 66 Questions". Foto: Festival Crossing Europe

Foto: Crossing Europe

Mit einem Strauß an vier Eröffnungsfilmen, darunter Nicolette Krebitz’ "AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe" mit "local hero" Sophie Rois, präsentiert das neuen Führungsduo von Crossing Europe heute seinen Einstand. Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler waren schon bisher für das Linzer Filmfestival tätig, programmatisch setzen sie den Kurs der langjährigen Leiterin Christine Dollhofer fort. Der bewährte Fokus gilt einem jungen europäischen Kino, das selten Eingang in den regulären Kinobetrieb findet. Wie schon bisher ist der Anteil an Regisseurinnen in Linz besonders hoch – so sind etwa im Wettbewerb sieben Filme von insgesamt elf von Frauen.

FilmFestival Cottbus

Eine der Entdeckungen ist "Looking for Venera", das Debüt der Kosovarin Norika Sefa, das 2021 in Rotterdam den Spezialpreis der Jury erhalten hat. Fernab der Konventionen eines Coming-of-Age-Films erzählt sie in haptischen Bildern davon, wie sich der Blick eines Teenagers auf sein angestammtes Umfeld durch eine lebenshungrige Freundin schärft. Empfehlen darf man auch Jacqueline Lentzous Erstling "Moon, 66 Questions". Die junge Artemis kehrt zu ihrem Vater nach Griechenland zurück. Der Film protokolliert so erfindungsreich wie verspielt die Versuche der beiden, das zwischen ihnen lastende Schweigen zu durchbrechen.

Tributes und Hommage

Mit dem diesjährigen Tribute des Festivals setzt die neue Leitung vielleicht den deutlichsten Akzent – man wagt sich einen Schritt näher ans Genrekino heran. Der 1972 geborene belgische Filmemacher Fabrice Du Welz bewegt sich flexibel zwischen Horror und Thriller, greift dabei auf beliebte Erzähldispositionen zurück, um ihnen seinen Twist zu verpassen. So etwa auch im jüngsten Film "Inexorable", in dem Benoît Poelvoorde einen Schriftsteller verkörpert, der durch eine junge Stalkerin (Alba Gaïa Bellugi) aus der Reserve gelockt wird. Du Welz spielt hier trotz einiger origineller Irritationen nicht restlos überzeugend mit dem Topos des maliziösen Eindringlings – man darf allerdings auf frühere Filme wie seine Hillbilly-Horror-Variation "Calvaire" gespannt sein.

BFI

Eine Hommage zum 75. Geburtstag gilt dem Linzer Lokalmatador Dietmar Brehm. Seit den frühen 1970er-Jahren erweitern die Arbeiten des Filmkünstlers den Experimentalfilm um pulsierende Triebwelten und abstrakte Angsträume. Die tendenziell voyeuristische Natur des Mediums wird bei Brehms Bewegtbildern zur Vorbedingung eines taktileren Sehens. Für Crossing Europe hat er selbst zwei Programme zusammengestellt, im Lentos-Museum wird eine Ausstellung zu sehen sein.

Dokumentarische Trouvaillen

Ein Balkon als Vorraum der Welt und argwöhnische Erdenbewohner. Der polnische Dokumentarist Paweł Łoziński beschert dem Festival mit "Film Balkonowy" den wohl minimalistischsten Beitrag. Er befragt Passantinnen und Passanten von seinem Balkon aus nach dem Sinn des Lebens. Hat er Glück, flaniert gerade eine Carl-Sagan-Leserin vorbei.

Millennium Docs Against Gravity Film Festival

Unter den Must-sees im Dokumentarfilmbereich firmiert auch Serpil Turhans "Köy", in dem die kurdischstämmige Regisseurin drei Protagonistinnen in Berlin über Kurdistan und damit über ihre Herkunft und Sehnsuchtsorte sprechen lässt. Der großen tschechischen Filmemacherin Helena Třeštíková galt bereits 2016 ein Tribute, nun kehrt sie mit "René" zurück – und somit dem gleichnamigen Langzeitprotagonisten, der einst im Gefängnis saß. Das Leben in Freiheit bleibt schwierig. (Dominik Kamalzadeh, 27.4.2022)