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Elon Musk weiß, wie man für Aufsehen sorgt.

Foto: Hannibal Hanschke / Reuters

Es ist eine verlockende Erzählung: Sieht man sich derzeit auf Twitter oder in Diskussionsforen um, könnte der Eindruck entstehen, dass ein große Nutzerexodus bei dem Mikroblogging-Dienst im Gange ist. Allerorten verkünden Twitter-User, dass sie angesichts der geplanten Übernahme des Unternehmens durch Elon Musk ihr Konto kündigen und auf andere Plattformen wechseln wollen.

Doch es sind auch andere Faktoren, die in dieses Bild passen: So verzeichnen derzeit Alternativen wie das freie Mastodon, aber auch Trumps Truth Social einen deutlichen Zuwachs an neuen Nutzern. All das ist unbestritten, ändert aber nichts daran, dass die Geschichte eines zeigt: Der große Twitter-Exodus wird nicht passieren.

Interesse und aktive Nutzung sind nicht das Gleiche

So verlockend in solchen Situationen die Versprechungen eines vollständig freien und föderierten Systems wie des Fediverse und seines prominentesten Vertreters, also Mastodon, auch sein mögen: Die Realität hat über die Jahre immer wieder gelehrt, dass dies nicht für den Massenerfolg reicht.

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Wer schon etwas länger im Internet unterwegs ist, wird sich etwa noch an Identi.ca/Statusnet erinnern, die in den Anfangsjahren oftmals als ernsthafte Herausforderer für Twitter gehandelt wurden. Ein Gedanke, der in der Nachbetrachtung leicht absurd wirkt, immerhin konnte die Plattform nie eine relevante Nutzerzahl gewinnen.

Freiheit ist oft aufwendig

Das liegt zum Teil daran, dass solche Lösungen oftmals sperriger zu benutzen sind als ihre Pendants. Die damit einhergehende Flexibilität mag für manche User gerade der Anziehungspunkt sein – etwa wenn man sich, wie im Falle von Mastodon, die eigenen Communitys sehr gut selbst aussuchen kann –, für die breite Masse ist das aber abschreckend. Diese will einen einfachen Login, ohne viel nachdenken zu müssen.

Netzwerkeffekt

Noch wichtiger ist aber ein anderer Faktor: der Netzwerkeffekt. Twitter ist ja nicht deswegen erfolgreich, weil es so hübsche Icons hat, sondern weil dort eben jene Leute sind, deren Nachrichten die User lesen wollen. Will ein alternativer Service auch nur den Anflug einer Chance haben, müsste auch ein beträchtlicher Teil der Nutzerschaft wechseln.

Wie unrealistisch das ist, haben die vergangenen Jahre immer wieder gezeigt. Die ganzen Skandale rund um Facebook mögen das Ansehen des Unternehmens in der Öffentlichkeit nachhaltig beschädigt haben, direkte Konkurrenten konnten sich trotzdem nie durchsetzen. Weder Diaspora noch Ello oder auch Google+ kamen je über ein Nischendasein hinaus – im letzten Fall nicht einmal, obwohl hier ein IT-Riese wirklich viel Geld in das Projekt gesteckt hat.

Dass Facebook mittlerweile langsam in seiner Bedeutung schwindet, hat denn auch weniger mit direkten Alternativen als mit einem verschobenen Nutzungsverhalten zu tun. Gerade jüngere User verbringen ihre Zeit schlicht lieber mit anderen Diensten wie Tiktok, Instagram und Youtube, statt auf alternative, klassische soziale Netzwerk zu wechseln. Diese haben sich für einen Teil schlicht überlebt – und das ist auch genau die Art, wie solche großen Plattformen üblicherweise sterben, und nicht durch direkte Konkurrenten.

Ein Mastodon-Boom? Wirklich?

Zudem gilt es, die Aussagen von einem aktuelle "Mastodon-Boom" auch einmal in konkrete Zahlen zu fassen. Am Dienstag hieß es auf dem – Achtung: Ironie – offiziellen Twitter-Account von Mastodon, dass sich im Laufe des Tages 41.287 User neu registriert hätten. Ein paar Stunden später sprach der Dienst dann von weiteren 43.292 Nutzern.

Selbst wenn wir das freundlich rechnen, wären das also an einem Tag 100.000 Neuanmeldungen. Das ist für einen Service, der derzeit eine Nutzerzahl irgendwo im einstelligen Millionenbereich hat, unzweifelhaft ein beachtliches Wachstum. Ob diese Konten dann auch wirklich aktiv genutzt werden oder ob deren Registrierung eher die Manifestation einer inneren Empörung ist und diese schnell wieder brachliegen, muss sich freilich erst zeigen.

Symbolpolitik

Vor allem aber heißt das noch nicht, dass die betreffenden Personen parallel dazu auch Twitter verlassen. Wenn man sich in den vergangenen Tagen auf der Plattform umgesehen hat, dürfte die Zahl der realen Abmeldungen überschaubar sein. Stattdessen wird die Anmeldung bei Mastodon meist umgehend verkündet – und zwar bei Twitter. Was wiederum die Vermutung nährt, dass es hier oft mehr darum geht, ein Zeichen zu setzen, als ernsthaft Twitter den Rücken zu kehren.

In Wirklichkeit ist es doch so: Während viele gerne über Twitter klagen, nutzen sie es eigentlich recht gerne oder meinen gar, ohne dieses nicht auskommen zu können. Ob das der Realität entspricht, ist irrelevant, für eine Abwanderung bräuchte es dadurch aber schon wesentlich mehr als eine kontroverse Übernahme der Firma. Die Vermutung liegt nahe, dass viele Nutzer, die jetzt tatsächlich gehen, schon länger mit diesem Schritt geliebäugelt haben – und nun einen Anlass gefunden haben.

Abwarten

Das Gros der Nutzer wird hingegen einmal in Ruhe abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Immerhin sind viele von Musks Vorstellungen betreffend Twitter – vorsichtig gesagt – eher krude. Wie diese dann umgesetzt werden sollen, muss sich erst zeigen. Wenn Twitter also User verlieren sollte, dann wohl nur langfristig – und selbst dann ist die Frage, ob diese nicht durch neue Nutzerinnen ersetzt werden.

Mastodon ist davon unabhängig interessant

Und was heißt das jetzt für Mastodon? Der Traum vom großen Durchbruch wird auch weiter ein Traum bleiben. Das muss aber nichts Schlechtes sein, nicht jedes Netzwerk braucht hunderte Millionen an Usern, um relevant sein. Insofern könnte die aktuelle Twitter-Diskussion sehr wohl dazu führen, dass hier manche eine neue Community finden, wo sie sich wohler fühlen, wo substantieller diskutiert wird, ganz fern von Verbreitungsmaximierung und dem Wettstreit um Follower-Zahlen. Und das ist doch auch schon einmal etwas Positives. (Andreas Proschofsky, 27.4.2022)