Erzählen, was niemand glauben will: Monika Helfer.

Foto: Imago / Horst Galuschka

An einem Morgen im Mai sagte Uma zu ihrer Mutter, die gerade frische Leintücher spannte: "Mama, ich gehe zu Rico, er will mir seinen Hund vorführen." Die Mutter nickte nur. Aber Uma ging nicht zu Rico, sie ging dahin, wo sie schon eine Weile jeden Tag hingegangen war. Es war ein Brunnen, sechs Meter tief, ein leerer Brunnen. Ein Brett lag darüber, das hatte Uma weggeschoben und dann vor dem Heimgehen wieder hingeschoben.

Sie setzte sich an den Rand des leeren Brunnens und schaute ins Dunkle hinunter. Wenn ich da unten wäre, dachte sie, könnte ich über mich nachdenken. Sicher gibt es Dinge, die ich noch nicht weiß. Lange schaute sie in den Brunnenschacht, versuchte etwas zu sehen, sah aber nichts.

Zwei Stunden war sie dort gesessen. Niemand bemerkte sie, der Brunnen lag auf einem verwahrlosten Grundstück. Sie zog das Brett wieder über das dunkle Loch und ging rasch auf das Haus von Rico zu. Von weitem hörte sie seinen Hund bellen. "Willst du sehen", fragte Rico, "was ich ihm für Kunststücke beigebracht habe?" Uma schaute zu, aber mit ihren Gedanken war sie auf dem Brunnengrund.

Drei Tage

"Rico", sagte sie, "ich will dir auch etwas zeigen, morgen um zwei, hast du Zeit?" "Ist es ein Tier?", fragte Rico, der sich zu dieser Zeit nur für Tiere interessierte. "Du wirst sehen." Am nächsten Maitag, wieder leuchtete die Sonne wie eine Lampe vom Himmel. Als sie beide vor dem Brunnen standen, zog Uma das Brett beiseite, und beide schauten in den Abgrund.

"Und?", fragte Rico. "Wo ist das Tier?" "Schau doch nur wie geheimnisvoll!", schwärmte Uma. "Nichts lieber würde ich tun, als da hinunterzusteigen." "Da kommst du nicht mehr von allein herauf", sagte Rico. "Willst du da unten verdorren?" "Wir könnten eine Leiter hinunterlassen, ich würde hinabsteigen und dort so lange bleiben, bis es dunkel wird. Habt ihr eine Leiter zu Hause?"

Am nächsten Tag, wieder ein Maitag mit blinkender Sonne, trugen sie eine Leiter zum Brunnen. Wieder zogen sie das Brett von dem dunklen Loch, und nun ließen sie die Leiter in den Schlund sinken, bis sie fest stand. "Wenn ich jetzt hinuntersteige, versprichst du mir dann, mich am Abend abzuholen?", fragte Uma. "Vergiss aber nicht, das Brett über das Loch zu schieben!" Wenn er mich vergessen sollte, dachte Uma, kann ich immer noch über die Leiter hinaufklettern und versuchen, das Brett wegzuschieben.

Rico versprach, er würde verlässlich sein. Uma glaubte ihm. Er kam, kaum dass es zu dunkeln begonnen hatte, und half ihr aus dem Brunnen. "Wie war es?", fragte er. "Ich kann noch nichts darüber sagen, aber morgen werde ich mehr wissen."

So ging das drei Tage. Drei Tage verbrachte Uma auf dem Brunnengrund. Am vierten Tag stieg sie wieder an der Leiter hinab. Rico aber vergaß, das Brett darüber zu schieben. Uma saß am Brunnengrund und schaute nach oben. Die Wände waren bemoost und feucht. Sie hatte ein Kissen unten liegen, einen Rucksack, in dem sich Proviant befand, zum Trinken Wasser. Es gab nichts da unten, nichts Lebendiges außer Uma.

Fürchte dich nicht

Sie saß bereits eine Weile, da hörte sie über sich Geräusche, es klang wie ein Scharren, und in diesem Augenblick stürzte ein Ziegenbock in die Tiefe. Gerade konnte Uma sich an die Wand drücken. Er war verletzt. Seine Beine knickten ein, er konnte nicht mehr stehen. Er stank fürchterlich.

Sonst war er höflich und belästigte Uma nicht. Er nahm ihr allerdings viel Platz weg. Sie gab ihm Wasser und ihren einzigen Apfel. Sie überlegte, ob es möglich wäre, dass sie sich das alles einbildete. Die Angst, die ich habe, ist eine wirkliche Angst, das Blut auf den Beinen des Ziegenbocks ist wirkliches Blut.

Monika Helfer, "Bettgeschichten und andere". 19,– Euro / 144 Seiten. Bahoe Books, 2022 (Bibliothek des Alltags, Band 1, herausgegeben von Wolfgang Paterno)
Cover: bahoe books

Donner dröhnte vom Himmel, Blitze schossen, und Uma drückte sich an den Ziegenbock, und der Ziegenbock drückte sich an sie. Regen peitschte in den Schlund. Die Luft war klebrig, es roch modrig. Da sagte der Ziegenbock, so als ob er ein Mensch wäre: "Fürchte dich nicht, Uma, wenn die Welt untergeht, bin ich bei dir."

Sie lag stumm an seinem Rücken, und auf einmal störte sie sein Gestank nicht mehr. Sein warmer Atem streifte ihren Hals. "Hast du gerade gesprochen wie ein Mensch?", fragte Uma den Ziegenbock. "Ich kann es mir aussuchen", sagte der Ziegenbock, "ob ich ein Tier oder ein Mensch sein will."

"Könnte ich mir das auch aussuchen?" Es war, als stehe die Zeit. "Ich will ein Mensch bleiben", sagte Uma. "Werde du auch ein Mensch!" Wieder donnerte es, und Uma hörte einen Hund bellen. Gleich wird Rico kommen und mich befreien.

"Wie heißt du?", fragte Uma den Ziegenbock. "Ich habe keinen Namen, weil ich noch kein Mensch bin." Sie hörte Rico ihren Namen rufen. Du musst schnell ein Mensch werden, damit du die Leiter hinaufsteigen kannst. "Ich weiß nicht, ob ich das will", sagte der Ziegenbock.

Uma stieg die Leiter hinauf und schaute nach unten. Sie sah nichts. Es regnete nur noch leicht, das Gras war nass wie die Haare von Rico. "Bitte, Rico", sagte sie, "leuchte mit der Taschenlampe nach unten, da muss noch etwas sein." Der Schein leuchtete den Brunnengrund aus. Da war nichts. Überhaupt nichts. Uma dachte, ich werde niemandem von dem Ziegenbock erzählen, weil mir das sowieso keiner glauben wird. (Monika Helfer, Vorabdruck, ALBUM, 1.5.2022)