Absolvierte einen radikalen Sinneswandel: J. D. Vance

Foto: Karl Doemens

Vorne im Gastraum von Mr. Gatti's, wo es für sieben Dollar Buffalo-Chicken- oder Cheeseburger-Pizza vom Buffet gibt, herrscht reger Betrieb. Der schmucklose Veranstaltungssaal dahinter mit seinen spinatgrünen Wänden hingegen ist an diesem Mittag eher spärlich gefüllt. Die zwei Dutzend Gäste bekommen es kaum mit, als kurz nach ein Uhr ein bärtiger Mann in Jeans und grauem Sakko durch die Tür tritt, sich ein Mikrofon greift und vor eine Pappwand mit seinem Namen tritt.

"Hi", sagt der Redner: "Ich bin J. D. Vance. Ich bin ein konservativer Außenseiter. Ich habe nie für ein öffentliches Amt kandidiert. Ich will frisches Blut nach Washington bringen und die Dinge aufmischen."

Keine Musik. Keine Ankündigung. Kein tosender Applaus. Portsmouth ist nicht der Ort für große Auftritte. Seit einem halben Jahrhundert geht es für die ehemalige Industriemetropole am Nordufer des Ohio River bergab. Vance hat den Niedergang der weißen Arbeiterklasse in der Region 2016 in seiner Autobiografie "Hillbilly-Elegie" bedrückend beschrieben. Doch die Zeiten, als der einstige Bestsellerautor als kritischer Erklärer des Trump-Erfolgs herumgereicht wurde, sind vorbei. Der zuvor jungenhaft pausbäckige Yale-Absolvent hat sich einen Bart wachsen lassen und ist zum glühenden Trump-Apostel mutiert. In dieser Rolle will er nach ganz oben. Genauer gesagt: nach Washington in den US-Senat. Und dazu braucht er die Stimmen aus Portsmouth.

Vom Chronisten zum Demagogen

Vom aufklärerischen Chronisten zum rechtspopulistischen Demagogen – am Dienstag wird sich zeigen, ob die höchst verstörende Verwandlung des J. D. Vance von Erfolg gekrönt ist: Dann werden bei den Vorwahlen in Ohio die Kandidaten der Parteien für das Senatsrennen im Herbst ausgewählt. Fünf Republikaner treten gegeneinander an. Seit neuestem gilt Vance als Favorit.

Mit seinen 37 Jahren hat der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Kandidat einen bemerkenswerten Lebenslauf hingelegt: Er promovierte an der Top-Universität Yale, ging als Elitesoldat in den Irakkrieg, arbeitete als Hedgefonds-Manager in San Francisco und schrieb jene weltweit gefeierte Betrachtung über das Scheitern des amerikanischen Traums im amerikanischen Rostgürtel, die auch den Sozialdemokraten Olaf Scholz stark beeindruckte und diesen zur Betonung des "Respekt"-Begriffs in seinem Kanzlerwahlkampf anregte. Nun geht es nicht nur um den nächsten Karriereschritt für Vance. Sein Abschneiden bei den Primaries ist ein Gradmesser für die Dominanz des Ex-Präsidenten Donald Trump über die Republikanische Partei.

Wahlwerbung in Portsmouth.
Foto: Karl Doemens

Knapp 20 Minuten dauert der Vortrag von Vance. Es geht um Amerika, das einst die mächtigste Wirtschaftsmacht der Welt war, heute kaum noch vor Ort produziert und Arbeitsplätze exportiert. Um die Inflation, die die Einkommen auffrisst. Um die Linken, die den Patrioten angeblich den Mund verbieten wollen. Um die illegale Einwanderung aus Mexiko. Und um die "korrupten" Eliten in Washington, die auf republikanischer Seite "schwach" und bei den Demokraten "bösartig" seien. Vance listet vor allem emotionale Schlagwörter auf. Lösungen präsentiert er nicht.

Fruchtbarer Boden

Der Hass auf Globalisierung und freien Handel, die Ablehnung von Zuwanderung und die Sehnsucht nach der guten alten Zeit – das sind Stereotype, mit denen alle rechtsnationalen Trumpianer operieren. Wer durch die heruntergekommene Innenstadt von Portsmouth streift, begreift schnell, weshalb die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt: Überall verfallen die Häuser. Viele Fenster sind mit Spanplatten vernagelt.

Einstmals lebten hier 50.000 Menschen. Nur 20.000 sind geblieben. Das mittlere Jahreseinkommen liegt mit 31.000 Dollar halb so hoch wie im Landesschnitt. Längst wird kein Stahl mehr produziert. Am Fluss erinnert ein hundert Jahre alter gewaltiger Backsteinbau mit dem Schriftzug "Excelsior Shoe" daran, dass der Ort einmal das Zentrum der amerikanischen Schuhindustrie war. Heute werden hier nur noch Schnürsenkel gefertigt.

Anders als Donald Trump, der als Sohn eines reichen New Yorker Immobilienmoguls aufwuchs, kennt Vance diese bedrückende Welt aus eigenem Erleben. Öfter lässt er Erinnerungen an seine Kindheit, seinen Großvater, der "ein konservativer Demokrat und Gewerkschaftsmann" war, oder an seine drogensüchtige Mutter einfließen. "Lassen Sie mich eine persönliche Geschichte erzählen", sagt er dann und berichtet, wie er kurz vor einer Prüfung in Yale erfuhr, dass seine Mutter mit einer Überdosis Heroin ins Krankenhaus eingeliefert worden sei.

Leser der "Hillbilly-Elegie" werden sich an diese und andere Szenen erinnern. Doch beim Politiker Vance nehmen sie plötzlich einen anderen Ausgang als im Buch. Darin hatte sich Vance einfühlsam auch mit der Apathie, der bildungsfeindlichen Haltung und der Tendenz zur Gewalt in der weißen Unterschicht auseinandergesetzt und gefordert, "dass wir aufhören, Obama oder Bush oder gesichtslose Unternehmen verantwortlich zu machen, und uns fragen, was wir tun können, um die Umstände zu verbessern".

"Drecksäcke in Washington"

Davon ist nun nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Seine Mutter führt Vance nur ein, um Präsident Joe Biden zu attackieren, der "mit der Öffnung der Grenzen die Einfuhr von noch viel gefährlicheren Opioiden aus China und den Sexhandel ermöglicht hat". Die Arbeitslosen in Ohio seien Opfer der "Drecksäcke in Washington". Statt seine Zuhörer zum sozialen Aufstieg nach eigenem Vorbild zu motivieren, wettert der Yale-Absolvent: "Vieles von dem verrückten Zeug, was an Schulen gelehrt wird, kommt von den Hochschulen." Und: "Wenn man die Anführer eines Landes zwingt, die Unis zu besuchen, muss man sich nicht wundern, wenn die Politiker nachher alle linksradikal sind."

Die schwindelerregendste Kehrtwende hat der Erfolgsautor in seiner Beziehung zu Donald Trump hingelegt, den er einst in die Nähe von Hitler gerückt hatte. In einem hellsichtigen Aufsatz in "The Atlantic" verglich Vance wenige Monate vor der Wahl 2016 Trump mit "kulturellem Heroin": Wie die Droge verspreche der Politiker "einen raschen Ausweg aus den Sorgen des Lebens". Die von Trump beschriebenen Probleme seien real, doch seine Lösungen trügerisch, warnte der aufrechte Konservative damals: "Seine Versprechen wirken wie die Nadel in Amerikas kollektiver Vene."

Sechs Jahre später ist Vance selbst zum politischen Drogendealer geworden. Inflation, Zuwanderung, Kriminalität, Tablettensucht, industrieller Wandel – alles hängt in seiner Welt miteinander zusammen. Und immer sind die Demokraten schuld. Trump hingegen ist der Heilsbringer. "Ich mochte ihn 2016 nicht", räumt Vance in Portsmouth ein, um eilig hinzuzusetzen: "Ich habe mich getäuscht. Er war ein sehr guter Präsident – vor allem, weil er die Korruption im Herzen unseres Landes aufgedeckt hat." Ein paar Tage später wütet er bei einer Kundgebung gegen den "verrückten Fake-Präsidenten Biden" und schwärmt: "Trump war der beste Präsident in meiner Lebenszeit."

"Moralischer Kollaps"

Man kann nur rätseln, was den abrupten Sinneswandel bei Vance ausgelöst hat. Einige Beobachter machen seine angebliche Enttäuschung über die Abkehr des linken Establishments von den Nöten der Arbeiterschaft hin zum Kulturkampf gegen Trump dafür verantwortlich. Andere vermuten einen heiligen Zorn des katholischen Konvertiten wegen der Attacken der Demokraten auf den katholischen Verfassungsrichter Brett Kavanaugh. Überzeugend klingt beides nicht. Je länger man Vance zuhört und seine Selbstradikalisierung verfolgt, desto mehr gewinnt man vielmehr den Eindruck eines zynischen Pakts mit dem Teufel.

Der konservative, aber Trump-kritische Publizist Tom Nichols sprach im Magazin "The Atlantic" von einem "moralischen Kollaps" seines Ex-Kollegen, den er drastisch ein "schmieriges Arschloch" nannte. Über die Wortwahl mag man streiten. In der Sache aber spricht viel für dieses Verdikt. Nicht nur ließ sich Vance seine Kampagne mit zehn Millionen Dollar von dem umstrittenen Investor und Trump-Unterstützer Peter Thiel finanzieren, bei dem Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz nach seinem Rückzug aus der Politik angeheuert hat. Auch präsentierte sich der promovierte Jurist bei Twitter penetrant so lange als grobschlächtiger Trumpianer, bis ihn der Ex-Präsident endlich unterstützte. Wie ein Konfirmand stand Vance am vorigen Samstag im schwarzen Anzug hundert Meilen von seinem Geburtsort Middletown entfernt auf einer Bühne neben dem übermächtigen Republikaner-Paten und strahlte. Das Kalkül scheint aufzugehen: Seither ziehen seine Umfragewerte nach oben.

Verhasste Eliten

So unbeliebt sich Vance nämlich bei den Liberalen in den Küstenmetropolen gemacht hat – im ländlichen Ohio muss er gegen den Verdacht kämpfen, in Wirklichkeit zu den verhassten Eliten zu gehören. Sein innerparteilicher Wettbewerber Josh Mandel attackiert ihn mit Verschwörungspropaganda von noch weiter rechts außen. Lange lag Mandel vorne. Das hat sich mit der Trump-Unterstützung für Vance geändert. Die Vorwahl wird daher landesweit als Test dafür gesehen, ob der Ex-Präsident seine Partei komplett im Griff hat.

In Portsmouth scheint Vance die meisten Zuhörer überzeugt zu haben. "Er kommt aus dem Nichts und hat etwas aus sich gemacht", sagt Melissa Johnson, eine Angestellte in einer Fabrik für Lüftungstechnik. "Er wird auch für uns kämpfen." Dass der Kandidat einst abfällig über Trump redete, sieht sie als verzeihlichen Fehler: "Wir alle täuschen uns mal in Menschen." Tom Hall, ein Mittfünfziger, der Schießunterricht für Lehrer erteilt, findet den Positionswechsel von Vance sogar sympathisch: "Seine Geschichte ist ganz ähnlich wie meine. Ich war vor sechs Jahren auch skeptisch." Nicht Vance habe sich verändert, sondern Trump, argumentiert er. Und zwar zum Guten: "Der hat entschiedener zu konservativen Werten gestanden, als ich dachte."

Die Leser der "Hillbilly-Elegie" aber bleiben verstört zurück. Gerne würde man wissen, wie der Autor ihnen seine Häutung erklärt. Doch Interviewanfragen ausländischer Medien lehnt Vance derzeit ab. In Portsmouth drückt er dem deutschen Reporter zwar freundlich die Hand. Aber nicht einen einzigen Satz will er sagen: "Meine Wähler gehen vor", lautet seine vieldeutige Abfuhr. (Karl Doemens aus Portsmouth, 1.5.2022)