Geld ist nicht alles. Diese Erfahrung macht derzeit Mulliez, eines der größten und rentabelsten Einzelhandelsunternehmen der Welt, in Russland. Seinen Namen kennt auch im Stammland Frankreich kaum jemand – obschon es heißt, zehn Prozent der täglichen Ausgaben aller Franzosen landeten in der Tasche der diskreten Besitzerfamilie. Mulliez betreibt unter anderem die Supermärkte Auchan, den Sportartikelanbieter Decathlon und den Bau- und Bastelriesen Leroy Merlin. Eine kolossale Unternehmung: 500.000 Mitarbeiter erwirtschaften rund 80 Milliarden Euro jährlich.

Steinreich und locker

Genaue Zahlen geben die Mulliez’, eine Großfamilie mit 800 Mitgliedern, nicht bekannt. 1923 aus einer kleinen Spinnerei in der armen nordfranzösischen Stadt Roubaix entstanden, ist das heutige Unternehmen nirgends börsennotiert – gemäß dem Leitspruch des Auchan-Gründers Gérard Mulliez (90), die Börsen seien der "Krebs dieser Welt". Die Unternehmensphilosophie der streng katholischen Familie beruht nicht auf einer Wall-Street-Bibel, sondern auf dem päpstlichen Sozialkodex. Die Mulliez’ sind steinreich, aber sie bewegen sich nicht im Lamborghini oder per Privatjet, sondern nehmen in Paris lieber die Metro. Auf Geschäftsreisen übernachten sie in Ibis-Hotels, und wenn sie sich einmal im Jahr zum festlichen Austausch treffen, kommen sie nicht in Anzug oder Jetset-Robe, sondern ungezwungen locker.

Orsay zählt zum Riesenreich der Mulliez-Gruppe.
Foto: Imago/Eventpress

Heute sind sie in vielen Branchen aktiv: Pharma, Finanz, Gartenbau, Kultur, Freizeitelektronik, Mode und Autounterhalt. Damit sind sie so breit aufgestellt, dass sie auch Covid-bedingte Rückschläge wie jüngst bei den Modeketten Pimkie und Orsay leicht wegstecken. In Österreich hat Tochter Ordia mit 51 Filialen eben Konkurs angemeldet. Über die Schieflage Orsays hierzulande hat DER STANDARD berichtet.

Das Vermögen der Association Familiale Mulliez (AMF) wird auf 60 bis 70 Milliarden Euro geschätzt. Geschäftszahlen gibt es nur von der Sporthandelskette Decathlon: 913 Millionen Reingewinn bei einem Umsatz von 13,8 Milliarden Euro. Nicht schlecht für 1.700 Läden von Deutschland bis China – die schon wieder mehr als vor der Covid-Zeit abwerfen. Unbekannt ist, wie viel die Supermärkte Auchan oder der Leroy Merlin einbringen.

Langjährige Probleme

Wie auch immer, der Ukraine-Krieg macht der AMF nun einen Strich durch die Rechnung. Die Nordfranzosen hatten seit zwei Jahrzehnten massiv in Russland investiert. Leroy Merlin macht in seinen 113 russischen Läden mit 54.000 Mitarbeitern fast 20 Prozent seines Gesamtumsatzes. Auch Auchan erwirtschaftet mit 231 Märkten und 30.000 Mitarbeitern ein Umsatzzehntel in Russland. Nach langjährigen Problemen, nicht zuletzt mit der lokalen Korruption, hatte Auchan noch kurz vor Kriegsbeginn stolz verkündet, man habe "die Wende geschafft": Im russischen Markt sei Auchan heute als Nummer vier etabliert. Die Kette der Hypermarchés macht in Russland schätzungsweise fünf Milliarden Euro Umsatz – nach zwanzig Jahren Aufbauarbeit.

Verständlich, dass die Mulliez’ nicht einfach aus dem Putin-Land abziehen wollen. "Die Entscheidung über die Fortführung unserer Aktivität in Russland fällt nicht leicht", ließen sie in einem ihrer seltenen Communiqués verlauten. "Wir können unsere russischen Equipen nicht für einen Krieg verurteilen, den sie nicht gesucht haben." Außerdem könnte eine auch nur vorläufige Schließung als vorsätzlicher Bankrott ausgelegt werden, was zur Enteignung führen könnte, argumentierte Auchan.

Decathlon hat seine 60 Läden in Russland mit 2.500 Angestellten bis auf Weiteres geschlossen.
Foto: EPA/MAXIM SHIPENKOV

Decathlon hat seine 60 Läden mit 2.500 Angestellten bis auf Weiteres geschlossen. Bei den beiden Schwergewichten Auchan und Leroy Merlin können sich die Mulliez’ nicht zum Abzug durchringen. Obwohl der Druck wächst. Ende März wurde ein Leroy-Merlin-Markt in Kiew womöglich unbeabsichtigt von einer Bombe getroffen. Vor dem französischen Parlament erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, einzelne Firmen benähmen sich "wie Sponsoren der Kriegsmaschine" Putins. Er erwähnte namentlich Auchan, Leroy Merlin und Renault. Wobei der Autohersteller Renault seine Tätigkeit in Russland mittlerweile eingestellt hat, ähnlich wie die französische Parfumkette Sephora oder das Luxusunternehmen Hermès.

Viel zu verlieren

Der Bauriese Vinci, die Hotelgruppe Accor und der Foodkonzern Danone bleiben dagegen in Russland, weil sie, wie sie sagen, die Zivilbevölkerung nicht benachteiligen wollen. Der Energiekonzern Total stoppt immerhin seine Investitionen in Russland, und die Pariser Bank Société Générale will ihren Anteil an Rosbank verkaufen, wobei sie nach eigenen Angaben 3,1 Milliarden Euro ans Bein streichen muss.

Am meisten haben aber die Mulliez’ zu verlieren. Und nicht nur finanziell. Leroy-Merlin-Gewerkschafter berichten, auch in Frankreich würden Angestellte von Kunden als "Putins Komplizen" beschimpft, weil Leroy Merlin in Moskau bleibe und damit die Kriegskosten mitfinanziere. Die Mulliez’ sehen, dass dieser Zustand nicht ewig anhalten kann. Fürs Erste spielen sie auf Zeit, in der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Danach sieht es aber nicht aus. Der "Familienverein" Mulliez steht vor der schwersten Entscheidung seiner fast hundertjährigen Firmengeschichte. (Stefan Brändle aus Paris, 29.4.2022)