Beim Verschreiben von Arzneimitteln informiert der Arzt oder die Ärztin über Nebenwirkungen. Warum nicht auch bei Eingriffen ins Seelenleben?

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Depressionen, Angst und Traumabewältigung: Bei vielen Menschen mit psychischen Krankheitsbildern wirkt die Psychotherapie. Das ist seit vielen Jahren bewiesen. Dass es aber auch bei der Psychotherapie wie bei jeder anderen Form von medizinischer Intervention zu Nebenwirkungen kommen kann, wurde über Jahrzehnte nicht beachtet – weder von der Forschung noch in der Ausbildung von psychotherapeutischem Personal.

Vor Operationen informieren medizinische Fachkräfte über mögliche Risiken, Beipackzettel klären über potenzielle Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten auf, beim Verschreiben von Arzneimitteln erkundigt sich der Arzt oder die Ärztin über Allergien. Warum nicht auch bei Eingriffen ins Seelenleben, kritisiert Michael Linden, Psychiater und Psychotherapeut sowie Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité.

STANDARD: Psychotherapie wirkt – zumindest in den meisten Fällen. Manchmal bleibt allerdings nicht nur die heilende Wirkung aus, die Methode kann auch potenziell schädlich sein. Einen Diskurs darüber gibt es kaum. Woran liegt das?

Linden: Weil viele denken, dass es bei Psychotherapie nur darum geht, miteinander zu reden. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Wenn man mit seinem Partner redet, ist das sicherlich schön. Psychotherapie hingegen kann auch zu erheblichen Missverständnissen und Problemen führen.

STANDARD: Zu welchen?

Linden: Zu vielen. Man redet in der Therapie über Probleme, das beeinträchtigt die Befindlichkeit. Wenn Sie jemand fragt, was alles in Ihrem Leben schiefgelaufen ist, hebt das nicht unbedingt die Stimmung. Dazu kommt ein asymmetrisches Verhältnis: Der Profi auf der einen Seite weiß mehr als der Patient auf der anderen, das führt zu interaktionellen Problemen. Manche Therapeutinnen und Therapeuten sind sehr dominant, da kann man sich als Patient herabgewürdigt fühlen.

Dann gibt es auch noch auf die jeweilige Intervention spezifische Nebenwirkungen. Als Beispiel etwa die Anamneseerhebung. Der Therapeut fragt den Patienten nach der Vorgeschichte. Das macht jeder Psychotherapeut – und zwar nicht irgendwie, sondern theoriegeleitet. Angenommen, es kommen Fragen wie: Sind Sie bei Ihren Eltern aufgewachsen? War Ihr Vater da? Der Patient fragt sich dann möglicherweise: Warum fragt er mich das? Hat das eine Bedeutung? So werden lebensübliche Dinge zum Problem, die eigentlich gar kein Problem waren – vor allem wenn man sich als Therapeut daran festbeißt und eine bestimmte Theorie verfolgt.

Hinzu kommen Missverständnisse, weil die Situation immer abhängig ist von der Stimmung, in der man sich befindet. Patienten sind häufig in schlechter Verfassung, dann erinnern sie sich an Dinge auch eher in einem negativen Licht. Der Therapeut denkt dann, da sei wirklich etwas Negatives vorgefallen. Ein anderes Beispiel sind Expositionsbehandlungen bei Angstpatienten. Da kann es passieren, dass der Patient nachher deutlich mehr Angst hat als vorher. Kurzum: Das ist alles nicht unkompliziert.

In zehn Prozent der Fälle von Psychotherapie sehen wir schwerwiegende und überdauernde Nebenwirkungen.

STANDARD: Kann man das Risiko von Nebenwirkungen vorab minimieren?

Linden: Das ist die Aufgabe des Therapeuten. Er muss wissen, welche Risikofaktoren für Nebenwirkungen es gibt. Da unterscheidet sich die Psychotherapie nicht von der Pharmakotherapie – auch jemand, der eine Tablette verordnet, muss wissen, ob sein Patient irgendwelche Merkmale hat, die für diese Art Tablette vielleicht ein Risiko darstellen.

Genauso ist es auch bei der Psychotherapie. Wenn ich etwa mit einem Patienten zu tun habe, der eine abhängige Persönlichkeitsstruktur hat, also immer gerne tut, was andere sagen, und selbst unsicher ist, dann muss ich wissen, dass das auch in der therapeutischen Situation so sein wird. Das sind dann Patienten, die man als Therapeut manchmal sehr mag. Die hängen einem an den Lippen und tun so, als hätte man die Weisheit zu verkünden, und in Wirklichkeit unterstützt man nur die Pathologie des Patienten und fördert seine Abhängigkeit. Am Ende glaubt der Patient, er könnte ohne Therapeut nicht mehr leben, das ist dann eine Psychotherapieabhängigkeit, die gibt es auch.

Man darf sich nicht gut fühlen. Deswegen ist man nicht gleich krank.

STANDARD: Es gibt also auch innerhalb der Branche zu wenig Bewusstsein für Nebenwirkungen einer Psychotherapie?

Linden: Das ist sicherlich so. Es muss sehr viel mehr an Ausbildung passieren. In den Psychotherapie-Ausbildungsgängen ist es derzeit noch nicht die Regel, dass auch Seminare zu Nebenwirkungen gehalten werden. Deshalb mein Appell an die Profession, die Therapeuten: Bitte, seid euch bewusst und bildet euch über Nebenwirkungen weiter. Das ist eine therapeutische Aufgabe.

STANDARD: Auch in der wissenschaftlichen Forschung findet man zu der Thematik wenig. Täuscht dieser Eindruck?

Linden: Nein, das ist völlig richtig. Es gibt auch erst seit wenigen Jahren eine international anerkannte Definition: Nebenwirkungen sind unvermeidbare negative Folgen einer korrekt durchgeführten Therapie. Wir wollen Nebenwirkungen abgrenzen von Kunstfehlern. Ein extremes Beispiel etwa, was aber vorkommt: Wenn ein Therapeut einen Patienten misshandelt oder sexuell missbraucht, ist das keine Nebenwirkung der Psychotherapie. Oder wenn eine Therapie nicht wirkt, muss das auch keine Nebenwirkung sein. Es kommt vor, dass Krankheitszustände nicht behandelbar sind. Bis vor wenigen Jahren wurden all diese Dinge aber kommentarlos nebeneinandergestellt. Mittlerweile gibt es zunehmend empirisch verlässliche Forschung, die zeigt: In zehn Prozent der Fälle von Psychotherapie sehen wir schwerwiegende und überdauernde Nebenwirkungen.

Manche denken, jeder und jede sollte in Therapie gehen. Das ist ein Missbrauch meiner Profession.

STANDARD: Das Bewusstsein innerhalb der Branche und der Forschung ist also unzureichend, sagen Sie. Was können Klientinnen und Klienten tun? Wie merken sie, dass Therapie möglicherweise mehr schadet, als sie bringt?

Linden: Man muss nüchtern und kritisch sein. Wenn ich als Patient merke, dass es mir überhaupt nicht besser geht, sollte man sich gegebenenfalls mit jemandem – etwa dem Hausarzt – beraten.

STANDARD: Vor allem unter jungen Menschen auf Social Media wird mentale Gesundheit enttabuisiert – geradezu beworben. Jeder und jede sollte mal in Therapie gehen, finden Jugendliche auf Instagram häufig. Begrüßen Sie diese Entwicklung?

Linden: Zum einen ist es sicherlich positiv, dass psychische Störungen inzwischen ein bisschen anerkannter sind, statt nur als Charakterfehler wahrgenommen werden. Und natürlich ist es auch positiv, wenn Menschen dann professionelle Hilfe suchen. Auf der anderen Seite würde ich aber dringend davon abraten, nur mal probeweise oder bei Liebeskummer oder Ehekrach zum Psychotherapeuten zu gehen, denn das ist nicht ungefährlich. Genauso wie ich auch jedem abraten würde, sich mal schnell die Mandeln rausoperieren zu lassen. Wenn ich einen gesunden Menschen operiere, mache ich nichts Gutes. Und wenn ich einen gesunden Menschen psychotherapiere, mache ich auch nichts Gutes. Zehn Prozent haben bei Psychotherapie Nebenwirkungen, das ist keine unrelevante Zahl.

Ich kenne das Phänomen, dass Menschen denken, jeder und jede sollte in Therapie gehen und hätte etwas aufzuarbeiten. Das ist ein Missbrauch meiner Profession. Es gibt tatsächlich gesunde Leute, die meisten sind gesund. Und es gibt auch gesundes Leiden. Wenn jemand stirbt, leidet man, aber man ist sicherlich nicht automatisch krank. Wenn einen der Partner verlässt, geht es einem auch nicht gut, aber man ist trotzdem nicht krank. In solchen Situationen sollte man nicht direkt in Therapie gehen – es sei denn, man hat eine Diagnose. Wie sagt man so schön? Gehe nie zum Arzt, außer du bist wirklich krank.

STANDARD: Bei physischem Leiden ist den meisten ganz klar, wann man zum Arzt oder zur Ärztin gehen sollte. Bei der Psyche ist das anders, für viele ist es schwierig abzuwägen: Bin ich "krank genug"? Wann ist der Leidensdruck hoch genug?

Linden: Das ist nicht einfach. Ein Betroffener kann nicht selbst sagen, ob er krank ist, er kann nur sagen: Ich fühle mich nicht gut. Aber auch hier gilt wieder: Es gibt gesundes Leiden. Man darf sich nicht gut fühlen. Deswegen ist man nicht gleich krank. Dafür gibt es den Hausarzt. Den kann man mal fragen, ob das, was man da fühlt, schon interventionsbedürftig ist. Viele psychische Einbrüche gehen auch wieder vorbei, man muss auch nicht immer sofort reagieren. Ich bin eher zurückhaltend und würde sagen: Erst einmal abwarten. Wenn sich das Ganze dann anfühlt zu chronifizieren, dann suche ich mir Hilfe. Zudem muss man aufpassen, dass man nicht ständig normale Dinge dramatisiert. Es gibt schon lange sehr viel Leid auf der Welt. Das darf man aber nicht gleich psychopathologisieren, denn damit hilft man den Menschen nicht. Nicht jeder Flüchtling hat ein Trauma. Nicht jeder mit Ehekrise ist krank.

STANDARD: Wer ist denn krank?

Linden: Das hängt nicht vom Menschen, sondern von der Art der Störung ab. Bei bestimmten Krankheitsbildern ist Psychotherapie sinnvoll. Ich spreche hier von intensiver, theoriegeleiteter, evidenzbasierter Psychotherapie. Das ist abzugrenzen von supportiver mitmenschlicher Unterstützung eines Patienten über Jahre und Jahrzehnte. Ebendiese gezielte Psychotherapie sollte einen Anfang und ein Ende haben. Dabei spricht man allerdings nicht von fertigtherapiert, sondern es geht um die Frage: Sind Probleme entaktualisiert?

STANDARD: Psychotherapie bleibt oft jenen vorbehalten, die es sich leisten können. Kassenplätze sind kontingentiert. Viele Fachleute fordern, Psychotherapie für alle zugänglich zu machen. Sie auch?

Linden: Wenn es eine Krankheit ist, dann ist Psychotherapie eine Krankenbehandlung, und das sollte dementsprechend die Krankenkasse bezahlen – aber eben nicht für Liebeskummer. (Magdalena Pötsch, 7.5.2022)