Farbmassaker: Wie blutige Überreste türmen sich Pfropfen aus rotem Wachs zu Kapoors Installationen.
Foto: Dave Morgan

Zum Ausgleich zur diversen Ausrichtung der 59. Biennale in Venedig, die Werke von vorwiegend weiblichen und nonbinären Kunstschaffenden zeigt, wird das Rahmenprogramm abseits der Giardini sowie des Arsenale primär von männlichen Kapazundern mit großformatigen Werken bestimmt (siehe Infokasten). Der indisch-britische Künstler Anish Kapoor bespielt gleich zwei Einrichtungen mit überdimensionalen Installationen und bringt seine Illusionsspiele als Touristenmagnet in die Lagunenstadt.

Wie überall in Venedig ist auch die vor der Gallerie dell’Accademia selbst bei strömendem Regen absurd lange Menschenschlange bestes Anzeichen für eine Kunstattraktion. Der zweite Teil der Ausstellung befindet sich im Palazzo Manfrin in Cannaregio, wo seit kurzem auch Kapoors Foundation beheimatet ist. Dort geht es jedenfalls ruhiger zu.

Einstimmung mit zweideutigen Gemälden.
Foto: Dave Morgan

Vulkan oder Vulva?

Als Einstimmung auf die fast körperlichen Skulpturen des 1954 im heutigen Mumbai geborenen und in London lebenden Künstlers sollten zunächst seine neuen Gemälde betrachtet werden, deren Motivik sich zwischen Lava speienden Vulkanen, frischen Fleischfilets und blutigen Vulven bewegt. Bei Kapoor, der Großbritannien 1990 selbst auf der Biennale vertrat, kann man sich nie so sicher sein: Entweder spielen optische Täuschungen subtile Spiele oder heftige Skulpturenkörper versuchen, jegliche Dimensionen zu sprengen: Leere vs. Masse.

Scheinbare Löcher und Spalte klaffen wie dunkle Wunden in den Wänden, aus der Frontansicht geometrischer Formen wachsen seitlich reliefartige Körper. Kein Wunder, dass hier auffallend viele "Do not touch"-Schilder angebracht sind. Zu frappierend sind die Illusionen, die Kapoors großformatige Skulpturen schaffen – klebt da nur eine täuschend matte Folie – oder blickt man tatsächlich in einen endlosen Raum hinein?

Frappierende Illusionen: 2018 stürzte ein Ausstellungsbesucher in die Installation "Descent into Limbo".
Foto: Anish Kapoor

Mind the gap!

Dass der international bekannte Künstler eine derartige Manipulation überhaupt erzeugen kann, liegt an dem von ihm patentierten Farbstoff Vantablack, der als dunkelster Schwarzton gilt und beinahe das gesamte Licht (99,8 Prozent) absorbiert, das darauf trifft.

Am eigenen Leib erfahren musste dies ein Ausstellungsbesucher, der 2018 in eines der Werke stürzte – zum Glück wirkt dieses nur wie ein endloses Loch, in echt ist es etwa 2,5 Meter tief. Die Schau in Venedig bringt frühe Werke aus den 1980er-Jahren mit neuen, ortsspezifischen Arbeiten zusammen. In Pregnant White Within Me stülpt sich ein massiver Ball derart gut getarnt aus der weißen Wand, dass man ihn fast übersieht.

Kapoor über sich selbst: "Ich sagte Ihnen doch, ich bin ein verrückter Narr."
Foto: George Darrell

Dramatisches Rot

Genau umgekehrt verhält es sich mit Kapoors gewaltigen, teils übertrieben dramatischen Installationen. Noch lieber als Schwarz ist dem Künstler die Farbe Rot, die er als Obsession beschreibt. Da türmen sich fleischige Wachspfropfen wie die Überreste einer Schlacht auf: Eine Kanone steht im Massaker, Wände und Boden sind übersät mit Farbspritzern, blutrote Schlieren kleben auf Metallschienen. In anderen Installationen hängen Unmengen von Farbe, Silikon oder Wachs auf Gestellen oder kleben in einer Ecke.

Im Palazzo Manfrin wölbt sich die monumentale Skulptur Mount Moriah at the Gate of the Ghetto wie eine verkehrte Vulkanlandschaft über den Köpfen des Publikums. Bei einem Interview im Vorfeld kommentierte Kapoor sein Vorhaben, diese zweieinhalb Tonnen schwere Arbeit von der Decke hängend zu installieren, so: "Ich sagte Ihnen doch, ich bin ein verrückter Narr." (Katharina Rustler, 30.4.2022)