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Eine 70-jährige Frau weint neben dem Sarg ihres Sohnes, der in Butscha getötet wurde. Noch sind nicht alle Opfer identifiziert.

Foto: AP / Rodrigo Abd

Im Garten, neben ihrem Haus, säubert Tatiana sorgfältig ihre Pfannen und Töpfe. Ein Nudelsieb steht auf dem Gartentisch, ein paar Lebensmittel. Tatianas Haus ist unversehrt geblieben, doch viele Gebäude in der Nachbarschaft sind bis auf die Grundmauern zerstört. Stockend, mit vielen Pausen, beginnt Tatiana zu erzählen. "Ich habe meine Tochter verloren, sie war auf dem Heimweg, sie war mit Freunden zusammen, dann wurde sie wohl erschossen."

Wann das war? Im März, sagt sie, Tatiana weiß es nicht genau. Überhaupt weiß sie nur wenig darüber, was geschehen ist mit ihrer Tochter Anna, 36 Jahre alt. "Sie lag fünf Tage lang tot auf der Straße", hat man ihr erzählt.

Anna, über deren Tod ihre Mutter so wenig weiß, ist selbst Mutter. Zu ihrem Kind hatte sie seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr, erzählt Tatiana. Keine Briefe, keine Besuche, keine Nachrichten auf Facebook. Annas Kind lebt bei der Schwiegermutter, die sei reich, sei irgendwo im Ausland. Wahrscheinlich weiß Annas Kind noch nichts vom Tod der Mutter.

Fehlende Aufklärung

Tatiana lebt in Butscha, dem Ort, der weltweit zum Symbol für die Grausamkeit des Ukraine-Kriegs geworden ist. Nach dem Abzug der russischen Truppen fand das ukrainische Militär hier ein Massengrab, das erste von mehreren. Über 400 Tote hat man bisher in Butscha gezählt. Nach wie vor bestreitet Moskau, dass es willkürliche Erschießungen, Kriegsverbrechen gegeben habe. Die Toten von Butscha seien eine Inszenierung. Restlos aufgeklärt ist nichts.

Das Ergebnis einer internationalen Untersuchung steht noch aus. Sinn würde eine solche Untersuchung auch nur machen, wenn sich Russland daran beteiligen würde. Wenn etwa internationale Experten russische Soldaten, die vor Ort waren, befragen könnten. Doch die wurden in der Zwischenzeit von Präsident Wladimir Putin zu Helden erklärt und kämpfen anderswo.

Tatiana konnte immer noch nicht in Erfahrung bringen, wann und wie genau ihre Tochter erschossen wurde.
Foto: Christoph Mohr

Die Indizien, die auf Kriegsverbrechen hindeuten, mehren sich. Da sind die Satellitenbilder der US-Firma Maxar Technologies. Sie zeigen Leichen auf den Straßen, vor dem Abzug der russischen Truppen. Kein Beweis für Kriegsverbrechen, es könnten auch Opfer von Kampfhandlungen sein. Doch Fotografen der Nachrichtenagentur AFP sahen 20 Leichen in Zivilkleidung, einige mit gefesselten Händen.

Details und Recherchen

Die BBC widerlegte Behauptungen auf prorussischen Social-Media-Accounts, wonach in Videoaufnahmen der ukrainischen Armee nicht alle auf der Straße liegenden Körper tot seien. So habe sich ein Arm eines vermeintlich Toten bewegt. Laut BBC handelt es sich bei der angeblichen Bewegung um einen Regentropfen oder etwas Dreck auf der Windschutzscheibe eines Fahrzeugs. Zudem sei das Video verlangsamt abgespielt worden.

Zeitungen wie Newsweek und Investigativ-Plattformen wie The Inside und Bellingcat kamen mit immer neuen Details und Recherchen. Ganze Heerscharen von Faktenfindern analysierten jedes Video, jedes Bild, jede Aussage. Inzwischen kann man wohl gesichert sagen: Ja, es gab Kriegsverbrechen. Von russischer Seite. Und eben auch, in geringerem Umfang, von ukrainischer Seite.

Die Berichte, die Erkenntnisse aus Butscha und anderen Gebieten "werfen ernste und beunruhigende Fragen über mögliche Kriegsverbrechen, schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und schwerwiegende Verletzungen der internationalen Menschenrechte auf", sagt Michelle Bachelet, die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen.

Mitarbeiter am Limit

Inzwischen beherrschen andere Orte die Nachrichten. Cherson, Charkiw und vor allem Mariupol. Vergangenen Donnerstag kam Butscha für kurze Zeit erneut in die Schlagzeilen. Begleitet von Journalisten besuchte UN-Generalsekretär António Guterres den Ort. Er forderte Russland zur Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) bei der Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen auf. Viel Berichterstattung gab es nicht, Butscha ist nicht mehr interessant. Die Reporter sind weitergezogen.

Annas Tod jedoch ist ungeklärt. Nach wie vor. Wurde ihre Tochter gezielt erschossen, oder war sie ein ziviles Opfer der Kampfhandlungen? Tatiana vermutet Ersteres. Inzwischen haben sie Anna gefunden, ihre Leiche exhumiert. "Ich habe sie noch nicht gesehen, weil es noch eine Untersuchung durch die Polizei gibt. Und wenn sie damit fertig sind, werden sie anrufen und sagen: Du kannst die Leiche mitnehmen. Es hat noch niemand angerufen, ich weiß nicht, wo Anna ist."

Angehörige wie Tatiana wenden sich verzweifelt an die Behörden. Doch die Mitarbeiter sind überfordert. Ständig werden neue schwarze Säcke in das Leichenschauhaus gebracht. Die Toten müssen identifiziert werden. Die frühere Journalistin Michaela, eigentlich für die Digitalisierung der Verwaltung in Butscha zuständig, ist Beraterin des Bürgermeisters. Jetzt kümmert sie sich um die Angehörigen, führt Listen. "Old style", wie sie sagt. Die Stromversorgung funktioniert nicht richtig. Per Computer geht es nicht.

Überall Tote

Auch Wochen nach dem Abzug russischer Truppen aus den Vororten Kiews, wie hier in Borodjanka, werden unter Schutt und Trümmern Tote entdeckt.
Foto: Christoph Mohr

"Wir sprechen mit den Angehörigen, wir schauen auf den Listen nach, vielleicht finden wir die Leiche in der Fotodatenbank der Polizei, die die Fundorte dokumentiert. Dann können die Angehörigen den Totenschein bekommen." Jede Leiche wird in Butscha auf die Todesursache hin untersucht. "Die Hauptschwierigkeit ist: In Butscha haben wir über 400 Tote gefunden", sagt Michaela. "Unser Leichenschauhaus ist zu klein für diese Anzahl an Toten. Wir haben nur zwei Gerichtsmediziner, die hier arbeiten. Im Normalfall untersuchen sie sieben Leichen pro Monat. Jetzt hatten sie 78 Tote pro Tag."

Mehr Gerichtsmediziner, mehr Untersuchungstische? Unmöglich zu bekommen. Überall rund um Kiew werden nach dem Abzug der russischen Truppen Tote gefunden, überall müssen sie identifiziert und untersucht werden.

Immer neue Opfer

Auch die Toten aus den Massengräbern haben sie im Leichenschauhaus von Butscha identifiziert. Es waren nicht nur Kriegsopfer, wie oft berichtet. "Es gab Tote, die im Krankenhaus gestorben waren. An irgendeiner Krankheit. Die Russen erlaubten nicht, dass man sie beerdigt." Die meisten der Toten von Butscha sind inzwischen geborgen. Doch immer wieder findet die Polizei weitere Opfer, in zerstörten Häusern, verscharrt am Straßenrand, in den Kellern der Ruinen.

Jede dieser Leichen hat eine Geschichte. Eine ging Michaela besonders nahe. "Gestern sprach ich mit einem Mann über seine Frau. Geboren wurde sie 1988, die beiden haben drei kleine Kinder. Sie starb im Keller eines Hauses, wohl um den 20. März. Laut Totenschein an einem Herzinfarkt. Aber wir wissen, sie hatte kein Wasser, keine Nahrung. Sie war jung, gesund. Ich kann nicht sagen, dass sie verhungert ist. Aber ich vermute es."

Und Anna? Ihre Mutter Tatiana wartet immer noch auf Nachricht. Wann ist Anna gestorben? Tatiana glaubt, es war um den 15. März. Da hatte sie einen Albtraum. Tatiana sagte ihrem Mann, Anna sei tot. Er antwortete: Wie kannst du das sagen? Einen Tag später erfuhren die beiden, dass Anna tatsächlich nicht mehr lebt. Was genau geschehen ist, wie Anna starb, irgendwann wird Tatiana es erfahren. Und ihre Tochter beerdigen können. (Jo Angerer aus Butscha, 30.4.2022)