Der ukrainische Botschafter in Wien, Wassyl Chymynez, zeigte sich am Freitag entsetzt über den jüngsten russischen Raketenangriff auf Kiew. Der Beschuss am Donnerstagabend während des Besuchs von UN-Generalsekretär António Guterres sei ein "zusätzlicher Ausdruck des russischen Zynismus", sagte Chymynez dem STANDARD. "Das sollte eine rote Linie für die gesamte Weltgemeinschaft sein. Wir fragen uns, ob Russland weiterhin seinen Platz als Mitglied des UN-Sicherheitsrats behalten muss."

Zuvor hatte Chymynez gemeinsam mit seiner polnischen Amtskollegin Jolanta Kozłowska auf dem Heldenplatz die Kampagne #StopRussiaNow öffentlich unterstützt. Die europaweite Aktion soll mit Plakaten und im Internet das Bewusstsein für den Krieg in der Ukraine schärfen.

Respektlosigkeit für Menschen in Kiew

Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sieht im russischen Raketenangriff eine klare Botschaft an die Vereinten Nationen. "Herr Putin hat den Mittelfinger gezeigt", sagte Klitschko in einer Videobotschaft am Freitag über den russischen Präsidenten. Guterres selbst sagte dem britischen Sender BBC: "Ich war geschockt zu hören, dass in der Stadt, in der ich mich aufhalte, zwei Raketen explodiert sind." Als persönliche Botschaft sieht er sie seinem Sprecher zufolge aber nicht. "Er nahm es nicht als Zeichen der Respektlosigkeit gegen ihn, sondern für die Menschen in Kiew", sagt UN-Sprecher Farhan Haq.

Wolodymyr Selenskyj am Ende des ersten Tages des Krieges, am 24. Februar. Stunden zuvor war er nur knapp einer Entführung oder der Ermordung durch russische Soldaten entgangen
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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dem US-Magazin Time von den dramatischen ersten Stunden des russischen Angriffs erzählt. Demnach seien er und seine Familie in der Nacht des 24. Februar offenbar nur knapp einer Entführung oder gar einer Ermordung durch russische Eliteeinheiten entkommen. Als tags darauf die USA und Großbritannien eine Evakuierung angeboten hätten, habe er abgelehnt. Selenskyj hält sich nach wie vor in Kiew auf.

Die Ukraine hofft auf eine baldige Rettung von Zivilisten aus dem belagerten Asow-Stahl-Werk in Mariupol. "Es ist eine Operation geplant, um die Zivilisten aus dem Werk zu bekommen", verlautete am Freitag aus dem Präsidialamt in Kiew. Der Kreml lehnte dies aber ab. "Die Zivilisten können gehen, und zwar in jede Richtung, die Militärs müssen rauskommen und ihre Waffen niederlegen", wurde Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zitiert. Ihnen werde das Leben und medizinische Versorgung garantiert. Mehr aber nicht, hieß es.

Schwere Verluste

Wie schon in den letzten Tagen konzentrierten sich die anderen Kämpfe auch am Freitag auf den Osten der Ukraine. Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch räumte am Freitag schwere Verluste ein, betonte jedoch, sie auf russischer Seite sehr viel höher. "Ihre Verluste sind kolossal." Westliche Experten erklärten allerdings, die russischen Verluste seien zurückgegangen, jedoch "immer noch ziemlich hoch". Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums gab es schwere Gefechte um die Städte Lyssytschansk and Sewerodonezk im Donbass.

Das russische Verteidigungsministerium gab seinerseits einen Angriff auf ukrainische Militärziele mit Marschflugkörpern von einem U-Boot im Schwarzen Meer aus bekannt. Die jeweiligen Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. Die Niederlande und Großbritannien kündigte indes an, Fachleute zur Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen in die Ukraine zu schicken.

Außenminister Sergej Lawrow erklärte, Russland befinde sich nicht im Krieg mit der Nato. Eine derartige Entwicklung würde das Risiko eines Atomkrieges steigern, erklärt Lawrow nach einem Bericht der Nachrichtenagentur RIA. Lawrow gab der Ukraine die Schuld für ins Stocken geratene Friedensgespräche. Die Regierung in Kiew wechsle Lawrow zufolge andauernd ihre Verhandlungspositionen.

Am Montag hatte Lawrow gesagt, der Westen unterschätze die Gefahr eines Atomkriegs. Laut Aussagen eines nicht genannten US-Offiziellen ist die Gefahr eines russischen Atomwaffeneinsatzes nicht imminent. Aber sowohl Kiew als auch Moskau scheinen sich auf den Kollaps ihrer Gesprächsschiene vorzubereiten. (schub, gian, guha, bed, 29.4.2022)