Es war aussichtslos, aber der damalige Kanzler Christian Kern (SPÖ) wollte es dennoch probieren. Im Juli 2016 stattete er Ungarns Premier Viktor Orbán einen Besuch ab. Es galt, die Beziehungen zu jenem Land zu verbessern, das sich vehement dagegen wehrte, in Europa gestrandete Flüchtlinge aufzunehmen, und sie stattdessen einfach nach Österreich und Deutschland weiterschickte. Was Kern damals noch nicht wusste: Die schwarze Reichshälfte in der Heimat schien ihm einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen.

Kern reiste mit einer ausgefeilten Idee nach Budapest. Sein sozialdemokratischer Amtsvorgänger Werner Faymann hatte einige Monate zuvor erreicht, dass sich die Slowakei willig zeigte, 500 Geflüchtete aus dem damals heillos überfüllten Erstaufnahmezentrum Traiskirchen aufzunehmen. Eine Kooperation nach diesem Vorbild strebte Kern nun auch in Ungarn mit sogenannten Dublin-Fällen an, die Österreich dorthin zurückschicken wollte, weil sie über das Nachbarland eingereist waren – allerdings dachte Kern um eine Zehnerpotenz höher. Doch der ungarischen Seite soll es vor allem darum gegangen sein zu illustrieren, wo überall man Grenzzäune baut, um Flüchtlinge abzuwehren. An eine Aufnahme dachte in Budapest wirklich niemand.

"Ihr wollt das gar nicht"

Kern stellte die Idee dennoch vor, die davor auch mit der EU-Kommission abgestimmt wurde. Es ging darum, Betreuungsstätten in Ungarn zu bauen, die man sogar finanziert hätte. Doch Orbán soll mit einem breiten Grinsen abgewunken haben. "Ihr wollt das gar nicht", soll der ungarische Premier dann überraschend entgegnet haben. Als Kern etwas verdutzt reagierte, habe Orbán offengelegt, dass im Vorfeld des Termins ein Minister aus Österreich angerufen habe, um Kerns Vorhaben zu torpedieren. Diese Anekdote erzählte Kern erst unlängst auf einer Veranstaltung des Onlinemediums Zackzack, das vom ehemaligen Grünen-Abgeordneten Peter Pilz herausgegeben wird.

Christian Kern reiste damals mir konkreten Plänen nach Budapest und kehrte etwas verdutzt nach Österreich zurück.
Foto: APA/BKA/ANDY WENZEL

Kerns damaliger Kanzleramtsminister Thomas Drozda (SPÖ) bestätigte Zackzack bereits die Erzählung des ehemaligen Regierungschefs. Sowohl Orbán als auch Drozdas Pendant in Ungarn, János Lázár, sollen damals jeweils in Vieraugengesprächen und unabhängig voneinander bestätigt haben, dass die ÖVP Kerns Pläne habe durchkreuzen wollen. Kern selbst bringt Sobotka mit der Intervention in Verbindung.

"Beide halte ich für die wahrscheinlichere Variante"

Namen seien damals allerdings nicht gefallen, sagt Drozda dem STANDARD. Es sei nur von Regierungskollegen die Rede gewesen. "Mir war nicht klar, ob es Sobotka oder Kurz (Sebastian Kurz, damals Außenminister, Anm.) war oder beide, was ich für die wahrscheinlichere Variante halte", erklärt der Ex-Minister. "Es gab ja damals einige ungeheuerliche Illoyalitäten wie diese, bei denen der eine, Kurz, im Hintergrund agiert hat, und der andere, Sobotka, im Vordergrund und Rampenlicht." Das ist auch der Grund, warum selbst ein ehemaliger Vertreter der damaligen ÖVP-Regierungsmannschaft Kerns Anekdote auf Nachfrage zumindest nicht ausschließen kann.

Denn Sobotka mutierte in jener Zeit immer mehr zum rot-schwarzen "Sprengmeister". Kern richtete er als Innenminister in regelmäßigen Abständen öffentlich Kritik aus und reizte mit fragwürdigen Vorstößen wie der Einschränkung der Versammlungsfreiheit das Koalitionsklima. Als Kern und sein damaliger Vize Reinhold Mitterlehner (ÖVP) im Jänner 2017 trotz aller Streitigkeiten mit einem ausgearbeiteten Arbeitsprogramm einen Neustart probieren wollten, verweigerte Sobotka für einige Stunden als Einziger die Unterschrift – "getrieben von Kurz", wie Kern twitterte. Als Kurz noch im selben Jahr ins Kanzleramt einzog, wurde Sobotka Nationalratspräsident.

In Sobotkas Büro weist man die Vorwürfe zurück. "Man muss an der Stelle klar festhalten, dass sich Wolfgang Sobotka damals in seinen Gesprächen mit seinem Amtskollegen Sándor Pintér (Ungarns Innenminister, Anm.) laufend darum bemüht hat, dass Ungarn die Dublin-Richtlinien befolgt und Flüchtlinge nicht einfach nach Österreich und Deutschland durchwinkt", lässt ein Sprecher ausrichten. "Die Haltung der damaligen Regierung in Ungarn kann man anhand von Handlungen und Aussagen nachrecherchieren. Eine Intervention wäre also einigermaßen überflüssig gewesen." Der türkise Altkanzler Sebastian Kurz gab keine Stellungnahme ab. (Jan Michael Marchart, 3.5.2022)