Die RONDO-Gesprächsrunde von links nach rechts: Adrian Bauer (21) studiert u. a. an der FH Campus Wien Nachhaltiges Ressourcenmanagement, David Degasper (23) studiert Architektur an der Akademie der bildenden Künste, Precious Mariam Sanusi (22) ist Schauspielerin und fertigt Häkelmode, Lucero Arenillas (20) besucht die Wiener Graphische und betreut den Tiktok-Kanal des KHM, Marlene Oelschlägel (20) besucht die Meisterklasse der Modeschule Herbststraße.
Foto: Mafalda Rakoš

"Ich müsste noch einen Knopf annähen." Adrian kramt in seinem Rucksack und zieht einen Overall raus. Um ihn herum sitzen Marlene, David, Lu und Precious – die fünf sehen sich an diesem Mittag im Studio der Fotografin im Wiener Sonnwendviertel zum ersten Mal. Marlene übernimmt Nadel und Faden und hilft aus. Wenig später sitzt der Knopf – und los geht das Gespräch.

STANDARD: Adrian, woher hast du den blauen Overall?

Adrian: Den habe ich bei einer Hausräumung mitgenommen. Bis auf Socken und Unterhosen trage ich meist gebrauchte Sachen. Ich dumpstere und tausche Kleidung oder kaufe auf Secondhandplattformen ein. Mit meinen Outfits bewege mich gern zwischen den Welten, provoziere ein bisschen und spiele mit Kleidercodes. Heute trage ich einen gedumpsterten Overall, morgen mache ich auf einem Ball im Smoking so, als ob ich Teil der High Society wäre.

Marlene kombiniert ihr umgenähtes Kleid von Humana mit vielen Schmuckstücken.
Foto: Mafalda Rakoš

STANDARD: Wann hast du das letzte Mal geshoppt?

Adrian: Das ist lange her. Vor der Pandemie, mir macht Einkaufen einfach keinen Spaß.

STANDARD: Seit wann kaufst du gebrauchte Kleidung?

Adrian: Als Kind habe ich Kleidung meist von meinem Bruder übernommen. Später habe ich mich gefragt, ob meine Kleidung unbedingt neu sein muss. Heute weiß ich: Es kann unterhaltsam sein, Sachen zu reparieren oder mit Freunden zu tauschen. Tatsächlich aber ist mir nicht so wichtig, was ich anziehe.

David: Etwas Ähnliches mache ich auch: Ich bediene mich aus den Kleiderkästen meiner Großeltern, die vor einigen Jahren verstorben sind. Rund die Hälfte meiner Kleidung hat Oma oder Opa gehört, so wie der Anzug, den ich heute trage. Teilweise ziehe ich auch Stücke von meinen Eltern aus den 1990ern an.

Marlene: Ich trage Basics, Hosen, Kaschmirpullover und Jacken von meinem Vater. Er hat viele Anzughosen, die ich enger genäht habe, ich mag diesen lockeren Fit.

STANDARD: Mögt ihr etwa alle Secondhandmode?

Lu: Ich fühle mich in normalen Shops eingeschränkt. Auf Secondhandplattformen oder in Vintage-Stores habe ich dagegen unterschiedliche Stile zur Auswahl. Meine Mutter näht zu große Stücke dann enger.

Precious: Ich interessiere mich mehr für Kleidung als fürs Shopping. Ich kaufe selten ein, gebe wenig Geld aus. Mein Zimmer ist voll mit der vererbten Kleidung meiner weiblichen Verwandtschaft, meine Mutter hat früher gern eingekauft! Mit 15 habe ich begonnen, Klamotten zu verändern. Zuerst händisch, dann habe ich eine Nähmaschine gekauft. Zu Beginn der Pandemie habe ich zu häkeln begonnen: Ich habe Kleidung in Streifen geschnitten und verarbeitet. Mein Rock war übrigens mal ein Kleid meiner Mutter.

Marlene: Du hast auch dein Oberteil selbst gestaltet, oder? Ich finde cool, Dinge zu verändern. Mein Kleid habe ich in Größe XXL bei Humana gekauft und einfach enger genäht.

STANDARD: Die Fast-Fashion-Anbieter sind so erfolgreich wie nie. Seid ihr mit eurer Vorliebe für gebrauchte Kleidung eine Minderheit?

Lu hat die Farbe Rosa für sich entdeckt.
Foto: Mafalda Rakoš

Marlene: Wir sind umgeben von Menschen, die eine ähnliche Einstellung haben. In unserer Gesellschaft aber sind wir sicher eine Ausnahme. Auf Tiktok zum Beispiel wird Konsum großgeschrieben. Man muss sich nur die vielen Shein-Hauls (Videos, in denen die Shoppingausbeute der chinesischen Fast-Fashion-Marke vorgestellt wird) ansehen. Da investieren junge Menschen 2000 Euro in säckeweise Mega-Fast-Fashion. Ich finde das schrecklich.

STANDARD: In den Nullerjahren galt Shopping als Hobby. Ist das bei euch auch so?

David: Einkaufen kann schon Spaß machen. Man muss ja nicht in der Mall einkaufen. Das Stöbern durch Secondhand-Stores ist wesentlich interessanter. Man kann dort noch Dinge entdecken.

Adrian: Shoppingmalls versprechen ja auch Erlebnisse. Ich erfahre dort aber nichts Neues.

Adrians Overall stammt aus einer Hausräumung.
Foto: Mafalda Rakoš

David: Ich war zuletzt in Kopenhagen in kleinen Stores unterwegs, da standen die Designer und Designerinnen selbst im Geschäft. Man bekam beim Einkaufen einen persönlichen Bezug zu den Labels.

Marlene: Ich lasse mich in allen möglichen Läden inspirieren – kaufe aber selten etwas. Wenn ich shoppe, dann Stoffe. Das hat auch damit zu tun, dass ich eine Ausbildung zur Schneidermeisterin mache. In Geschäften sehe ich mir die Verarbeitung der Kleidung genau an, meist ist die Qualität schlecht. Von Stücken, die mir richtig gut gefallen, mache ich Fotos, um später eventuell einen Schnitt zu zeichnen.

STANDARD: Wie hat die Ausbildung deinen Blick auf Mode verändert?

Marlene: Ich habe gelernt, unter welchen Umständen Fast Fashion produziert wird, wie Massenproduktion funktioniert. Viele unterschätzen auch, wie teuer Maßanfertigung sein muss.

STANDARD: Welche Marken mögt ihr?

Precious: Mir fallen eher Marken ein, die ich nicht gut finde. Ende letzten Jahres hat Chanel einen überteuerten Adventkalender herausgebracht. Als Kritik kam, fand das Unternehmen das nicht einmal problematisch.

Marlene: Wenn ich in die Schaufenster großer Designermarken schaue, fallen mir immer wieder Verarbeitungsfehler auf. Man zahlt eben nicht nur für die Produktion, sondern auch fürs Marketing. Trotzdem würde ich gerne einmal für renommierte Modehäuser arbeiten.

David: Bei Designerinnen wie Vivienne Westwood gefällt mir das Konzept hinter der Marke. An den Shows von Alexander McQueen Ende der Nullerjahre oder jenen von Gucci mit dem Operationssaal faszinieren mich die Ideen dahinter. Ich muss aber keine teuren Designerprodukte haben. Ich unterstütze lieber kleine Brands, die werden neben den großen Namen gern vergessen.

STANDARD: Wie viel Zeit und Geld gehen für Kleidung drauf?

Adrian: Ich investiere eindeutig mehr Zeit als Geld in Kleidung. Die Suche ist schon aufwendig …

Lu: Schätzungsweise drei Stunden in der Woche verbringe ich auf Willhaben, teilweise auch während der Schule. Ich suche nach Farben und besorge die Kleidungsstücke meist in Wien, um das Verschicken zu umgehen. Meine Ausgaben halten sich in Grenzen, für eine gute Hose gebe ich auch mal mehr aus.

Precious: Ich bin Multitaskerin und häkele nebenbei, zum Beispiel beim Serienschauen oder in der U-Bahn. Das ist für mich keine Zeitverschwendung.

STANDARD: David, du trägst Perlenketten und hast lackierte Fingernägel. Erfährst du noch Unverständnis?

David: Ja und nein. In Wien begegnet man meinem Äußeren mit einer größeren Selbstverständlichkeit. In Vorarlberg werde ich dafür häufiger im positiven Sinn angesprochen und bestärkt. Einerseits wird überall vom Verschwimmen der Geschlechtergrenzen gesprochen, andererseits zeigt beispielsweise Marlenes Ausbildung, wie sehr in Mann- und Fraukategorien gedacht wird. Auch die Modewelt funktioniert noch so, das sieht man in den meisten Shows.

Marlene: Für mich hat ein Kleidungsstück kein Geschlecht, allerdings benötigen unterschiedliche Körperformen verschiedene Schnitte. Ich würde aber gern öfter Männer in Kleidern oder Röcken sehen.

Precious: In Nigeria haben Männer in vorkolonialer Zeit ganz selbstverständlich Kleider angezogen. Die Hosen kamen mit dem Kolonialismus – und damit hat die Akzeptanz von Männern in Kleidern wieder abgenommen.

DER STANDARD

STANDARD: Wie wichtig sind Social Media in eurem Alltag?

Adrian: Meist will ich das Gegenteil dessen, was mir auf Instagram vorgeschlagen wird. Ich sehe da wenig Secondhand und nachhaltige Lebensstile. Insofern beeinflusst mich die Plattform schon. Mittlerweile verwende ich erfolgreich einen App-Timer.

Precious: Es ist allerdings creepy, wie gut der Tiktok-Algorithmus einen kennt!

Lu: Ich bin viel auf Tiktok, weil ich dort für das Kunsthistorische Museum Beiträge mache und mich nach Trends umschaue. Grundsätzlich habe ich schon das Gefühl, auf Social Media Dinge entdeckt zu haben und filtern zu können, was mir gefällt oder weniger gefällt. Ich lasse mich nur von einer Influencerin inspirieren, die Secondhand einkauft und Farben super kombiniert.

David: Für Tiktok bin ich womöglich schon zu alt. Für mich war Instagram lange eine wichtige Inspirationsquelle. In Vorarlberg auf dem Land gab es keine Role Models für genderfreie Mode. Über die Plattform habe ich eine andere Welt betreten können. Heute habe ich die Nutzung stark reduziert.

Precious: Das geht mir ähnlich. Es gab Zeiten, in denen ich viel Zeit am Handy verbracht habe. Da schaut man sich Shein-Hauls auf Tiktok an, und plötzlich sind drei Stunden rum, danach ist man deprimiert. Ich finde gerade Pinterest am spannendsten, das ist nicht so toxisch.

David trägt unter dem ärmellosen Anzug seines Großvaters einen ledernen Harnisch. Er lackiert regelmäßig seine Fingernägel, diesmal in einem Blauton.
Foto: Mafalda Rakoš

STANDARD: Wie hoch ist der Druck auf Instagram oder Tiktok, gut auszusehen?

Lu: Es macht was mit einem, wenn man viel Zeit auf Social Media verbringt. Ich lerne auf der Graphischen viel über Bildbearbeitung. Es ist faszinierend, wie wenig an den meisten Fotos dort echt ist. Es ist ein Prozess, den Umgang mit den Plattformen zu lernen. Statt Menschen, die mir nicht guttun, folge ich jenen, die mich inspirieren.

Marlene: Ich bin irgendwann Schauspielerinnen und Influencerinnen entfolgt. Mittlerweile frage ich mich immer: Fühle ich mich schlechter, wenn ich einen Account abonniere? Außerdem habe ich zwei Profile. Auf meinem privaten Insta-Account poste ich nur Blödsinn. Den mag ich lieber als mein eigentliches Profil. Dort habe ich das Gefühl, mit meiner Selbstinszenierung alle ein wenig anzulügen. Andererseits macht es auch Spaß, das Leben schöner und ästhetischer darzustellen.

Adrian: Auf Instagram ist man erreichbar und sichtbar, deshalb gehört es dazu, da zu sein. Und ja, man gleicht sich körperlich ab.

David: Ich möchte was dazusagen: Social Media wird oft negativ dargestellt. Instagram erlaubt mir aber auch, eine andere Person zu schaffen als jene, die ich in der realen Welt sein muss. Es war eventuell nicht so sehr das dörfliche Konstrukt, sondern mehr die gesellschaftliche Erwartung an Geschlechterrollen in der Mode, der ich im anonymen Internet entgehen konnte.

Adrian: Man muss sich aber auch fragen, zu welchem Preis. Wie frei es in den Anfängen des Internets fernab der kommerziellen Steuerungsmechanismen der Alorithmen zuging, können wir uns nur schwer vorstellen.

Precious hat einen Pullover auseinandergenommen, ihren Rock hat sie aus einem Kleid ihrer Mutter genäht.
Foto: Mafalda Rakoš

STANDARD: Verstehen eure Eltern, wie anstrengend Social Media sein können?

Marlene: Mein Vater ist auf Instagram aktiver als ich, er zeigt Bilder von seinen Reisen, wie eine Art Tagebuch. Den Druck, der von diesen Plattformen ausgeht, verstehen Eltern aber meist nicht.

Adrian: Das sehe ich auch so. Meine Eltern sind auch eher auf Plattformen wie Twitter aktiv.

STANDARD: Wofür gebt ihr gern mehr Geld aus?

Precious: Ganz klar für Schmuck! Meist besorgt mir meine Tante Stücke aus Nigeria, dem Gold aus Österreich vertraut sie nicht.

Lu: Für Schuhe, die lange halten. Als wir nach Österreich gezogen sind, hatten wir nicht so viel Geld. Billige Schuhe gehen schnell kaputt, habe ich damals erfahren.

Adrian: Sehe ich genauso, ich würde in Teile investieren, die auch zum Bergsteigen taugen.

STANDARD: Apropos, spielen Trachten für euch eine Rolle?

David: Mittlerweile schon, man kann Lederhosen ja auch provokant einsetzen und queer interpretieren.

Marlene: Ein Freund von mir hat einen Dirndlrock mit Lederhosenträgern genäht, um beide Geschlechter zu vereinen. Ich finde die Dirndlverarbeitung toll. Gerade nähe ich einen Dirndlrock und eine Korsage.

Adrian: Ich bin in der Stadt großgeworden und habe wenig Berührung mit dem Thema. Meine konservativsten Kleidungsstücke sind zwei Anzüge. Einen habe ich bei Peek & Cloppenburg besorgt, einen Smoking im Sixties-Look auf Willhaben. Ich liebe das Verkleiden!

Lu: Mit 16 habe ich mir mal ein Dirndl ausgeliehen, weil eine Freundin zum Oktoberfest wollte, das war’s dann aber auch.

Precious: Ich finde traditionelle Kleidung schon nice, aber Dirndl oder Lederhose, das passt einfach nicht zu mir. (Anne Feldkamp, RONDO, 5.5.2022)