Christian Borys mit einem seiner Javelin-T-Shirts in den Straßen der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg).

Foto: Daniela Prugger

Überrascht darüber, wie normal der Alltag in der Stadt wirkt, schlendert Christian Borys durch die belebten Gassen des historischen Zentrums von Lwiw, das seit Ende der 1990er-Jahre als Unesco-Weltkulturerbe gelistet ist. Pärchen sitzen in den Kaffeehäusern, Eltern spazieren mit ihren Kindern, ein junger Mann spielt auf einem der Plätze Klavier.

An diesem sonnigen Apriltag sind es die Details, die den frisch eingetroffenen 35-jährigen Kanadier mit ukrainisch-polnischen Wurzeln immer wieder aus der vermeintlichen Idylle reißen. Und daran erinnern, dass das Land seit über zwei Monaten von Russland angegriffen wird: Die Denkmäler auf den Plätzen und die Statuen vor den Kirchen, die präventiv mit Sandsäcken verhüllt wurden, oder ein Polizist mit leger umgehängter Kalaschnikow, der Borys’ Mategetränk für Bier hält und ihn freundlich darauf hinweist, dass in Lwiw aufgrund des Krieges noch immer Alkoholverbot herrscht.

Der Grund für Borys’ zweiwöchigen Aufenthalt in der Ukraine verbirgt sich unter seiner blauen Outdoorjacke: Ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Madonnen-Figur, die eine Anti-Panzer-Rakete der Bauart Javelin in der Hand hält. Diese Rakete ist von den USA tausendfach an die Ukraine geliefert worden. Borys hat die Ikone nicht erfunden – das Bild kursierte als Anlehnung an das Gemälde Madonna Kalaschnikow von Chris Shaw bereits vor dem 24. Februar 2022 in den ukrainischen sozialen Medien. "St. Javelin hat nichts mit Religion zu tun. Seit Jahrhunderten werden in Kriegen Ikonen von Heiligen zur Stärkung der Moral eingesetzt, zum Beispiel Jeanne d’Arc. Und in unserer Welt heute gibt es nun mal Memes", so Borys.

Jobs für die Ukraine

Er hat aus dem Internet-Meme aber eine Marke und vor kurzem ein Social Enterprise mit zehn Angestellten gemacht. "Für mich symbolisiert St. Javelin Unterstützung für die Ukraine. Wir wollen eine Marke schaffen, die hier im Land produziert und Menschen, die ihre Jobs verloren haben oder geflüchtet sind, einen Job gibt. Und mit den Erlösen helfen wir, das Land wieder aufzubauen."

Fünf Jahre hat Borys als Journalist in der Ukraine gearbeitet, bis er im Jahr 2018 zurück in seine Heimatstadt Toronto zog, wo er eine Marketingagentur gründete. Damals verließ er ein Land mit einer vielversprechenden Zukunft. Die Start-up-Szene boomte, die Billigfluggesellschaften Ryanair und Wizz Air kündigten neue Destinationen in Odessa und Charkiw an, und internationale Medien feierten die pulsierende Kulturszene in der Hauptstadt Kiew als das "neue Berlin". "Am 24. Februar 2022 brach ich zusammen. Die Ukraine befand sich im Aufschwung, und dann hat Russland das Land in den Ruin getrieben", sagt der Marketingspezialist.

Selenskyj eingekleidet

Vergangene Woche hat Borys in Kiew ein eigens angefertigtes T-Shirt an den ukrainischen Verteidigungsminister Oleksij Resnikow überreicht. Und ihm dabei gleich eines für Präsident Wolodymyr Selenskyj mitgegeben. "Ich wollte einfach, dass die beiden ein T-Shirt haben. Als mir Resnikow im Anschluss ein Tiktok-Video schickte, in dem man sieht, wie der Präsident das T-Shirt erhält, konnte ich es nicht fassen." Unbezahlbares Marketing, das die Nachfrage nach den Produkten weiter in die Höhe schießen ließ. Ein Großteil der Erlöse – mittlerweile mehr als zwei Millionen Dollar – fließt an Hilfsorganisationen, Waisenhäuser, das Rote Kreuz und Krankenwagen für Sanitäter.

Vor allem in den ersten Wochen spielte die Javelin eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung der Ukraine und Kiews gegen die Angriffe der russischen Panzer. Doch mittlerweile verwendet Borys für seine Tassen, Shirts und Sticker auch andere Symbole und Internetphänomene, die für den ukrainischen Widerstand stehen: die Aufschrift "Ruhm der Ukraine" etwa oder ukrainische Traktoren, über die seit Beginn des Angriffskrieges Videos kursieren, wie sie gestrandete oder zerstörte russische Panzer abschleppen.

Kunden aus 70 Ländern

Kamen die Bestellungen anfangs vor allem aus Nordamerika, hat das in Kanada und in der Ukraine registrierte Unternehmen mittlerweile mehr als 40.000 Kunden aus 70 Ländern, 10.000 Follower auf Twitter, und mehr als 50.000 auf Instagram. "Dieser Krieg findet auch im Internet statt, und Unterstützung bedeutet für mich auch, dass wir Menschen dabei helfen zu verstehen, was in der Ukraine passiert. Die Russen haben so viele Grenzen überschritten. In Butscha und an vielen anderen Orten." Kritikern, die die kämpferische Heilige als kriegsverherrlichend bezeichnen, entgegnet Borys: "Sie können St. Javelin als morbide verurteilen, aber bevor Sie das tun, verbringen Sie erst einmal etwas Zeit hier." (Daniela Prugger aus Lwiw, 3.5.2022)