Der ICC in Den Haag ist der erste internationale ständige Strafgerichtshof der Menschheitsgeschichte. Unumstritten ist er deshalb aber noch lange nicht.

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Was in der Ukraine geschehe, beschwöre das Trauma ihrer eigenen Vergangenheit herauf, schrieb Ilhan Omar neulich in der Washington Post. Bei den Bildern aus der Ukraine müsse sie immer daran denken, wie sie, damals acht Jahre alt, in der Bürgerkriegsstadt Mogadischu bewaffnete Milizen an den Fenstern vorbeiziehen sah, wie sie in der Nähe die Explosionen von Bomben hörte und sich fragte, "ob unser Haus das nächste sein wird".

Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Wladimir Putin und seine Armee begingen, erschütterten die Welt bis ins Mark. Putin müsse vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden, um sich zu verantworten, forderte die Kongressabgeordnete aus Minneapolis. Nur würde Amerika, wenn es dies verlange, die eigene Glaubwürdigkeit erheblich stärken, wenn es dem ICC endlich selber beiträte.

Riesige weiße Flecken

Der International Criminal Court in Den Haag wurde 1998 mit dem Statut von Rom begründet. Im Unterschied zu den Militärgerichtshöfen von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg, im Unterschied zu den Tribunalen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien, die auf Beschluss des UN-Sicherheitsrats ihre Arbeit aufnahmen, ist er ein ständiges Strafgericht – das erste der Weltgemeinschaft. Der Atlas derer, die bereit sind, sich seinen Urteilen zu unterwerfen, weist allerdings riesige weiße Flecken auf.

Etliche arabische Länder verweigern sich, ebenso Israel und Iran und Großmächte wie China, Indien, Russland – und die USA. Sie alle wollen verhindern, dass vor dem Gericht gegen ihre Bürger verhandelt wird. Der ICC aber kann einen Fall nur untersuchen, wenn die Angeklagten aus einem der derzeit 123 Vertragsstaaten kommen oder die Verbrechen auf dem Gebiet eines Vertragsstaats begangen wurden. In Washington pocht man, wie eben auch in Peking oder Moskau, auf die nationale Souveränität.

Zugleich führt man ins Feld, dass der amerikanische Rechtsstaat noch immer am besten geeignet sei, etwaige Verbrechen eigener Staatsbürger, seien es Soldaten oder CIA-Agenten, aufzuklären. Der Vorwurf der Scheinheiligkeit lasse sich damit indes nicht entkräften, kommentiert Oona Hathaway, Professorin an der Universität Yale, eine der renommiertesten Völkerrechtlerinnen des Landes. Um ihr Image aufzubessern, sollten die USA zumindest transparent und energisch ermitteln, wenn ein Verdacht auf ihre Militärs falle. Und deutlich machen, dass sie den ICC unterstützen, auch wenn sie dessen Gerichtsbarkeit für sich selbst (noch) nicht akzeptieren. "Törichte Kontinuität" führe zu nichts.

Ilhan Omar wiederum hat es nicht bei einem Gastbeitrag in einer Zeitung belassen. Im Repräsentantenhaus brachte sie einen Gesetzesentwurf ein, der Präsident Joe Biden auffordert, eine Kehrtwende zu vollziehen und für die Ratifizierung des Rom-Statuts zu werben.

Neue Töne von rechts

Die Erfolgschancen sind eher bescheiden. Applaus bekommt Omar zwar vom linken Flügel der Demokraten, doch weder der Mainstream ihrer Partei noch die republikanische Opposition lassen bisher so etwas wie einen Sinneswandel erkennen. Was sich allerdings geändert hat seit dem Überfall auf die Ukraine, ist der Ton: Sogar Lindsey Graham, ein konservativer Südstaatensenator, macht dem ICC auf einmal Komplimente, indem er von einem Tribunal spricht, das sich bemühe, dem Recht zur Geltung zu verhelfen. Auch wenn es ein wenig herablassend klingt: Derart freundliche Töne aus den Reihen der Republikaner hat man schon lange nicht mehr gehört.

Die Frage ist nun, ob Ilhan Omar mit ihrer Initiative eine Debatte anstößt, die vielleicht – nicht morgen oder übermorgen, aber doch irgendwann – praktische Konsequenzen hat. Oder ob das, was die Rechtsgelehrte Hathaway törichte Kontinuität nennt, weiter das Denken bestimmt.

Begonnen hat es im Grunde schon nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der Friedenskonferenz von Versailles schlug der britische Premier Lloyd George ein Kriegsverbrechertribunal vor, wobei es ihm in erster Linie darum ging, den deutschen Kaiser vor Gericht zu stellen. Woodrow Wilson, der damalige amerikanische Präsident, ansonsten ein glühender Verfechter der Menschenrechte, hielt nichts davon. Er fürchtete den Präzedenzfall, eine Einschränkung der nationalen Souveränität. Und als Ende der 1990er-Jahre der ICC Gestalt annahm, entschied sich das Weiße Haus für einen Slalomkurs.

Angst im Pentagon

Zwar unterzeichnete Bill Clinton das Gründungsdokument des Strafgerichts, warnte den Senat aber zugleich davor, es zu ratifizieren, sodass die Unterschrift rein symbolischen Wert hatte. Die Begründung: Die USA wollten erst beobachten, wie das Gericht arbeite, bevor sie eventuell den nächsten Schritt gingen. Auch Clinton, notieren Historiker, konnte dem Pentagon nie die Angst vor Verfahren nehmen, bei denen ein womöglich politisch motivierter Ankläger amerikanische Piloten vor Gericht bringen könnte, weil deren Bomben ein Ziel verfehlten und stattdessen Zivilisten trafen. George W. Bush versuchte erst gar nicht, den Eindruck zu erwecken, als könne er dem ICC etwas Positives abgewinnen. Barack Obama kooperierte von Fall zu Fall, insbesondere, wenn es um Warlords in Afrika ging.

Sanktionen gegen Chefin

Donald Trump ging dann so weit, Sanktionen gegen Fatou Bensouda zu verhängen, die damalige Chefanklägerin des Gerichts, eine Juristin aus Gambia. Von 2006 an war Den Haag dem Verdacht amerikanischer Kriegsverbrechen in Afghanistan nachgegangen. 2017 setzte sich Bensouda dafür ein, formelle Ermittlungen einzuleiten, wobei sie ein finsteres Kapitel des "Krieges gegen den Terror" ausdrücklich erwähnte: das Foltern von Terrorverdächtigen in Geheimgefängnissen der CIA, etwa durch simuliertes Ertrinken.

Dem ICC fehle die nötige Legitimität, erklärte daraufhin Trump, während sein Außenminister Mike Pompeo von einem "korrupten Gericht" sprach. Es war der Tiefpunkt einer komplizierten Beziehungsgeschichte. Biden schließlich knüpfte dort an, wo Clinton aufgehört hatte: warme Worte in Richtung Den Haag, ohne die traditionelle Abwehrhaltung tatsächlich aufzugeben. Der klassische Spagat. Ein Sowohl-als-auch, das sich in den Augen Ilhan Omars nicht endlos durchhalten lässt. (Frank Herrmann, 3.5.2022)