Die einen nennen ihn zögerlich, die anderen betrachten ihn als deeskalierenden Faktor im Ukraine-Krieg: An Olaf Scholz' Agenda scheiden sich die Geister.

Foto: imago/Gstettenbauer

Unter den 28 Erstunterzeichnerinnen des Emma-Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz befinden sich einige Nestoren der deutschen Nachkriegskultur. Alexander Kluge zum Beispiel zählt 90 Jahre. Romancier Martin Walser übertrifft den agilen Filmemacher um weitere fünf Jahre. Autorin Juli Zeh (47) und Mime Lars Eidinger (46) gehören beinahe schon zu den Nachwuchskünstlern. Prominente heimische Unterstützer sind der Medienkünstler Peter Weibel (78) und Autor Robert Seethaler (55).

Sie alle eint die nämliche bange Erwartung. Scholz, zuletzt aufgrund angeblicher Zögerlichkeit schwer in die Kritik geraten, möge weiterhin besonnen bleiben. Er dürfe dem "Krieg innerhalb der Ukraine" keine (weiteren) schweren Waffen zuführen. Scholz möge hingegen am raschen Zustandekommen eines Waffenstillstandes mitwirken.

Der Brief lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es gelte, trotz Wahrung des ukrainischen Notwehrrechts die "anderen Gebote der politischen Ethik" nicht zu vernachlässigen. Jede Eskalation könne zum Atomkrieg führen. Eine solche Verantwortung, heißt es, gehe nicht allein Putin, den "ursprünglichen Aggressor", etwas an. Irgendwann könne auch das Maß der "Zerstörung" und des "menschlichen Leids" unwiderruflich gesprengt sein: in einer für die ukrainische Bevölkerung unzumutbaren Weise.

Der verantwortungsethisch ausschlaggebende Satz lautet: "Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur." An die überragende (west-)deutsche Wirtschaftsmacht knüpfte sich seit jeher ein betont samtpfötiges Auftreten im Porzellanladen der Weltpolitik, eingehegt durch Rücksichtnahme auf die eigene Geschichte. Angeleitet blieb diese machtpolitische Schüchternheit vom Vertrauen auf den transatlantischen Schutzschild, gehalten vom militärisch starken Arm der USA.

Welt in Veränderung

Gewaltlosigkeit bildete daher für die Bundesrepublik Deutschland die Norm. Im Umgang mit Aggressoren? Gelte das Prinzip "Wandel durch Handel". In der aktuellen Ausgabe des Spiegels geißelt Christoph Heusgen, Ex-Vorsitzender des Uno-Sicherheitsrates, die bundesdeutsche Passivität. Die Welt verändere sich blitzartig. Es reiche nicht, "dabei zuzuschauen und zu hoffen, der Sturm möge an uns vorbeiziehen". Ganz anders sieht das Jürgen Habermas, der 92-jährige sanfte Riese der deutschen Philosophie. Habermas ist der Vertreter einer Verständigungsethik, die auf Wechselseitigkeit des Vernunftgebrauchs zielt.

Sein Bestreben bildet demgemäß die Verrechtlichung aller Normen des Zusammenlebens. Diese hätten möglichst im Weltmaßstab zu gelten. Prompt meldete sich Habermas in der Süddeutschen Zeitung ungewohnt deutlich zu Wort. Er geißelt in seinem Aufsatz die Selbstgewissheit der "Empörten". Rät ab von jedem Pokerversuch mit Putin: Ein solches Lizitieren könne nur "die rechtlich definierte Grenze, die wir uns selbst auferlegt haben", überschreiten.

Innerer Konflikt

Die um den Emma-Brief losgebrochene Debatte offenbart eine innerdeutsche Konfliktlinie. Es scheint, als ob Putins rücksichtsloser Angriffskrieg ein Umdenken bewirkt habe. Stimmen pazifistischer Nachdenklichkeit, wie zuletzt die von Autor Franzobel in Österreich, werden von Jüngeren als "verkappt herablassend" wahrgenommen. Intellektuelle Präzeptoren wie Habermas würden sich angesichts der ukrainischen Notlage wie "alte Herren am Abendbrottisch" artikulieren: rechthaberisch, moralisch abstrakt.

Das sagt zum Beispiel Simon Strauß, Kommentator der FAZ. Strauß legte im Rundfunk gleich ein Schäuflein drauf: "Wollen wir in Deutschland schon wieder einen moralischen Sonderweg gehen?" Seit dem 24. März finde in Deutschland ein rapider Umbau der Öffentlichkeit statt. Auf offener Bühne stampft eine Generation nachwachsender Intellektueller unüberhörbar auf, mit dem Notwehrfuß. Darüber hinaus bezeichnet der Aufschrei angesichts des Emma-Briefes einen markanten Bedeutungswandel: Deutschland solle seine Staatsräson von Grund auf neu denken. Die umständliche "Verrechtlichung" auch defensiver kriegerischer Handlungen, wie sie Habermas fordert, stößt insbesondere bei nach 1980 Geborenen auf taube Ohren.

Diese fühlen sich durch die vorsichtigen Abwägungen pazifistischer Wortführer moralisch erpresst. Oder, wie es Autorin Nora Bossong formuliert: "Leute wie Habermas sehen uns naiver, als wir sind." Die Maxime, der Politik durch bremsende Verfahren den Gewaltzahn zu ziehen, ist ungültig geworden; dagegen wurde das "Notwehrrecht" zur ethischen Schlüsselkategorie. Immerhin das hat Putins Tabubruch unübersehbar bewirkt. (Ronald Pohl, 2.5.2022)