Keine Angst vor Größe: Die New Yorker Künstlerin Helen Frankenthaler (1928–2011) ließ in ihren Großformaten die Farben tanzen, hier: "Beginnings", 1994.

X2022 Helen Frankenthaler Foundation, Inc. / Bildrecht Wien, Foto © Roz Akin

Bei Ausstellungen lohnt es sich, nicht nur die Werke anzusehen, sondern auch die anderen Besucherinnen und Besucher dabei zu beobachten, wie sie die Werke ansehen. Oft fallen da zusammengezogene Augenbrauen in ernsten, konzentrierten Gesichtern auf, hinter denen man die Gedanken nur so rattern hört: Da wird gedeutet, interpretiert, eingeordnet und versucht zu verstehen. Kunst als Kopfsache. Seltener und schöner ist es aber, der Kunst dabei zuzuschauen, wenn sie auch emotional zupackt. Augenpaare zu sehen, die leuchten.

Gerade im Bereich des sogenannten Color-Field-Painting, der Farbfeldmalerei, in der Helen Frankenthaler eine innovatorische Stellung einnimmt, sind starke Gefühlsreaktionen des Publikums belegt. Menschen weinen vor Rothkos, Barnett Newmans harte Flächen in grellen Farben wurden dagegen öfters als so provokativ wahrgenommen, dass sie beschädigt wurden. Helen Frankenthaler selbst brachte nicht nur ihre Bilder zum Leuchten, sondern schafft heute selbiges auch noch elf Jahre nach ihrem Tod mit den Augen ihres Publikums.

Bisher selten zu sehen

Die Kunsthalle Krems widmet einer der First Ladies des abstrakten Expressionismus (andere sind zum Beispiel die nicht weniger spannenden US-Amerikanerinnen Lee Krasner und Grace Hartigan) gerade eine aufschlussreiche Retrospektive, denn in Österreich ist das Werk der 1928 geborenen New Yorkerin bisher nur selten zu sehen gewesen. Die von Museumsdirektor Florian Steininger kuratierte Schau fokussiert auf Frankenthalers Arbeiten auf Papier (76 an der Zahl) und zeigt sie neben einigen ausgewählten Gemälden, vor allem Mittel- und Großformaten.

Größe machte Frankenthaler keine Angst. Gerade einmal 23 Jahre jung war die Tochter aus gutem, jüdischem Hause, als sie 1951 als eine von wenigen Frauen bei der für die Künstler der New York School wichtigen 9th Street Art Exhibition mit einem Großformat vertreten war. Da hatte sie ihre kubistische Phase genauso wie ihr Kunststudium schon hinter sich gelassen, ließ Formen und Farben organisch und frei im Bildraum tanzen.

Verdünnte Ölfarbe auf Leinwand

1952 sollte schon Frankenthalers Opus magnum oder zumindest ihr wohl einflussreichstes Werk Sea and Mountains folgen. Ihre unbehandelten Leinwände breitete sie wie Jackson Pollock auf dem Boden aus. Anstatt wie Pollock zu "drippen", goss sie verdünnte Ölfarbe auf die Leinwand, der sie dann mit verschiedenen Werkzeugen (z. B. Wischmopps) beim Einwirken in den Stoff half. Die mit dieser Technik entstandenen Bilder sollten unter dem Namen Soak-Stain-Paintings in die Kunstgeschichte eingehen.

Die Künstler Morris Louis und Kenneth Noland sahen Sea and Mountains in Frankenthalers Atelier und gingen als veränderte Männer heraus. Louis nannte das Werk "bridge from Pollock to what was possible" – natürlich im Sinne eines Auftrags an sich selbst. Beide Künstler entwickelten die Technik weiter, ohne sich Frankenthaler allzu sehr zu Dank verpflichtet zu fühlen.

Foto: Catherine Ursillo/ Photo Research

Zwar wurden die wenigen abstrakten Expressionistinnen mehr als nur geduldet – teilweise waren sie ja auch die Partnerinnen der männlichen Kollegen –, trotzdem nimmt man die Kunstströmung heute vor allem als den Boys Club wahr, der er auch war. Dafür haben sie schon damals gesorgt – allen voran Kritikerpapst und Gatekeeper Clement Greenberg, der mit Frankenthaler liiert war, bevor sie mehr als ein Jahrzehnt mit ihrem Kollegen Robert Motherwell verheiratet war.

Das sei hier nur am Rande erwähnt, denn die Ausstellung baut angenehmerweise nicht auf "der schillernden Frauenfigur" auf, die Frankenthaler auch war. Die Retrospektive erwähnt statt diesbezüglicher Anekdoten nur biografische hard facts und lässt Frankenthalers Arbeit für sich sprechen.

Und so sind in der Schau chronologisch aus allen Schaffensperioden Frankenthalers Werke zu bestaunen, von den Kubismus-inspirierten Anfängen über die so einflussreichen Soak-Stains bis hin zu den einnehmenden abstrakten horizontalen Landschaften wie im Gemälde Viewpoint I von 1974, die 2014 in einer Ausstellung passenderweise William Turners Landschaftsbildern gegenübergestellt wurden. Fast monochrome Arbeiten auf Papier aus den 2000ern schließen die Schau ab.

Material Teil des Bildes

Wie Frankenthaler mit Farbe und Raum, mit Transparenz, Licht und Überlappungen, wie sie mit Leinwand und Papier via Soak-Stain so umgeht, dass es sich nicht mehr um Bildträger handelt, sondern die Materialien Teil des Bilds werden, ist auf Reproduktionen nicht einmal erahnbar. Man sollte vor Frankenthalers Werk also unbedingt persönlich vorstellig werden. Wie schön, dass das in Krems jetzt möglich ist. (Amira Ben Saoud, 3.5.2022)