Bakterien sind ausgewachsene Naschkatzen: Normalerweise stürzen sie sich gierig auf jeden frei verfügbaren Zucker – kein Wunder, schließlich ist Zucker leicht verdaulich und steckt voller Energie. Umso erstaunlicher ist daher eine Entdeckung, die Forschenden kürzlich bei der Untersuchung von Seegrasregionen gelang: Sie fanden im Meeresboden unter den Wiesen gewaltige Mengen an Zucker, der offenbar von den Pflanzen mit hauseigener Chemie vor dem Zugriff durch die Bakterien geschützt wird.

32 Milliarden Dosen Cola

Seegras wächst in vielen Küstenregionen der Erde und bildet meist üppige Unterwasserwiesen. Diese Meerespflanzen holen sehr effizient Kohlendioxid aus der Atmosphäre: Seegras speichert mehr Kohlenstoff in deutlich kürzerer Zeit als Wälder an Land. Nun stellte sich heraus, dass ein Teil dieses Kohlenstoffs in Form von Saccharose im Boden unter den Pflanzen landet, der sogenannten Rhizosphäre.

Unter dieser Neptungraswiese liegt ein süßer Schatz begraben.
Foto: HYDRA Marine Sciences GmbH

Ein Team um Maggie Sogin vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie konnte nachweisen, dass die Konzentration von Zucker unter dem Seegras mindestens 80-mal so hoch war wie alles, was bisher im Meer gemessen wurde. "Zur Einordnung: Wir schätzen, dass weltweit zwischen 0,6 und 1,3 Millionen Tonnen Zucker, hauptsächlich in Form von Saccharose, in der Seegras-Rhizosphäre lagern", erklärt Manuel Liebeke, Leiter der Forschungsgruppe Metabolische Interaktionen. "Das entspricht ungefähr der Menge an Zucker in 32 Milliarden Dosen Cola!"

Phenole gegen die Naschkatzen

Aber warum haben die Bakterien den Zucker nicht längst verschlungen und in CO2 zurückgewandelt? "Wir haben lange versucht, das herauszufinden", sagt Sogin, Erstautorin der im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution" erschienenen Studie. "Aber dann haben wir festgestellt, dass Seegras – wie viele andere Pflanzen auch – Phenole in sein Sediment abgibt."

Forschen am Rande einer Wiese mit Neptungras im Mittelmeer. Die Untersuchung von Stoffwechselprodukten wie Saccharose und Phenolen im Meerwasser ist schwierig.
Foto: HYDRA Marine Sciences GmbH

Phenole sind in unserer Umgebung nichts Seltenes: Rotwein, Kaffee und Obst sind voll davon, und viele Menschen nehmen sie als Nahrungsergänzungsmittel zu sich. Aber diese Substanzen wirken auch antimikrobiell und hemmen den Stoffwechsel der meisten Mikroorganismen. "Wir haben Experimente durchgeführt, in denen wir die Mikroorganismen in der Seegras-Rhizosphäre mit aus dem Seegras isolierten Phenolen in Kontakt brachten – und tatsächlich wurde dort viel weniger Saccharose konsumiert, als wenn wir keine Phenole zugesetzt hatten."

Und warum der ganze Zucker?

Dass es überhaupt zu den Zuckerhalden kommt, liegt an den tages- und jahreszeitlich bedingten Lichtschwankungen – ein Problem, mit dem es auch Betreiber von PV-Anlagen zu tun bekommen. Das Seegras produziert den Zucker während der Photosynthese und verbraucht ihn unter durchschnittlichen Lichtverhältnissen für den eigenen Stoffwechsel und sein Wachstum. Bei sehr starkem Lichteinfall jedoch, zum Beispiel zur Mittagszeit oder im Sommer, produzieren die Pflanzen mehr Zucker, als sie verbrauchen oder speichern können. Dann geben sie die überschüssige Saccharose in ihre Rhizosphäre ab.

Video: Der erstaunliche Lebensraum Seegras und sein Stickstoff- und Kohlenstoffkreislauf.
Max Planck Institute for Marine Microbiology

Trotz der Phenole ist es einer kleinen Gruppe mikrobieller Spezialisten gelungen, die gewaltige Zuckerquelle anzuzapfen. Sogin vermutet, dass diese Spezialisten nicht nur in der Lage sind, Saccharose zu verdauen und Phenole abzubauen, sondern auch dem Seegras einen Dienst damit erweisen: Sie stellen wahrscheinlich essenzielle Nährstoffe her, die das Seegras zum Wachsen braucht, beispielsweise Stickstoff.

"Solche vorteilhaften Beziehungen zwischen Pflanzen und Mikroorganismen in der Rhizosphäre kennen wir gut von Landpflanzen. Aber wir fangen gerade erst an, die innigen und komplizierten Wechselwirkungen von Seegräsern mit Mikroorganismen in der marinen Rhizosphäre zu verstehen", so Sogin.

So bedroht wie die Korallenriffe

Seegraswiesen gehören zu den am stärksten bedrohten Lebensräumen unseres Planeten. Die jährlichen Verluste werden an einigen Standorten auf bis zu sieben Prozent geschätzt, vergleichbar dem Verlust von Korallenriffen und tropischen Regenwäldern. Bis zu ein Drittel des weltweiten Seegrasbestands könnte bereits verloren gegangen sein.

Große Mengen an gespeichertem Kohlenstoff würden freigesetzt, wenn die verbleibenden Seegraswiesen weiter abnehmen. Bei der Beurteilung der Folgen eines weiteren Verlusts müssten nun freilich auch die großen Mengen an Saccharose unter den Seegraswiesen ins Kalkül gezogen werden, meinen die Forschenden. "Unsere Berechnungen zeigen, dass bei einem Abbau der Saccharose in der Seegras-Rhizosphäre durch Mikroben weltweit bis zu 1,5 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangen würden", sagt Liebeke. "Das entspricht etwa der Menge an Kohlendioxid, die 330.000 Autos in einem Jahr ausstoßen." (red, 3.5.2022)