Lange wurde die moderne Frau ganz selbstverständlich über ihre Fähigkeit definiert, ihre Figur zu halten. Das ändert sich mittlerweile – doch das Konzept Diät ist immer noch nicht von der Bildfläche verschwunden. Es präsentiert sich nur in neuem Gewand.

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"Das kann ich nicht essen, ich bin gerade auf Diät" – dieser Satz ist den meisten so vertraut, dass er einem schon ganz normal erscheint. Doch seit einiger Zeit ist er immer seltener zu hören, Diät ist fast schon zu einem Unwort geworden. Es ist irgendwie unsexy – eine Entwicklung, die auch der Welt-Anti-Diät-Tag am 6. Mai widerspiegelt. Dabei ist die selbstauferlegte Kasteiung gar nicht verschwunden. Aber inzwischen sind Sätze zu hören wie "Ich mache Detox", "Ich bin am Intervallfasten", "Ich ernähre mich vegan" oder "Ich verzichte auf Zucker". Der Zugang zur Ernährung hat sich verändert. Aber was ist da genau passiert?

Die Diät an sich hat eine lange Geschichte. Vor allem Menschen, die es sich leisten können, versuchen schon seit langem, mit bestimmten Ernährungsregeln ihre Figur im Griff zu haben. Der englische Dichter Lord Byron etwa, der zu Dicklichkeit geneigt haben soll, kasteite sich mit einer Diät aus gekochten Kartoffeln und Essig. Kaiserin Sisi hielt ihre Wespentaille mit 46 Zentimeter Umfang durch eine Orangen-Ei-Milch-Diät.

Lange blieb die Obsession der perfekten Figur den Oberschichten vorbehalten, erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde das Schlanksein für eine breitere Bevölkerung zum bestimmenden Thema. Das Supermodel Twiggy setzte in den 1960er-Jahren dünne Standards, zur selben Zeit startete auch der Siegeszug der Brigitte-Diäten, die vom gleichnamigen Frauenmagazin propagiert wurden. Titel wie "Schlank! Schön! Eine neue Frau!" definierten völlig selbstverständlich die moderne Frau über ihre Fähigkeit, ihre Figur zu halten.

Das Paradoxe dabei: Der Begriff Diät bekam durch diesen Fokus eine völlig neue Bedeutung. Denn das aus dem Altgriechischen stammende Wort bedeutet nichts anderes als Lebensstil – und wird im medizinischen Bereich auch bis heute so verwendet. Die Mehrheit der Menschen verbindet damit aber vielmehr ein – im Extremfall gefährliches – Crashprogramm zum Abnehmen.

Eine Abfolge von Trenddiäten

Seit den 1960er-Jahren sind Diät und rigide Ernährungspläne zunehmend im Bewusstsein der Gesellschaft verankert – mit immer neuen Ansätzen. Kalorienzählen, die unterschiedlichsten Arten von Low Carb, fleischlose Ernährung, das gezielte Weglassen bestimmter Lebensmittel, die Kombination gewisser Lebensmittel, Low Fat, Kalorienrestriktion und mehr wechselten sich ab als angesagteste und erfolgversprechendste Trends.

Und auch die wissenschaftliche Forschung hat das unterstützt. Tina Bartelmeß, Ernährungssoziologin an der Universität Bayreuth, erklärt: "Man hat zur Ernährung lange auf rein naturwissenschaftlicher Ebene geforscht, einzelne, isolierte Stoffe und deren Auswirkungen auf den Körper untersucht und Erkenntnisse abgeleitet. Das hat dazu beigetragen, dass Diät im Gesundheitsverständnis tief verankert ist. Dazu kommt, dass sie leicht zugänglich scheint." Deshalb folge auch die staatliche Kommunikation mit ihren Ernährungsrichtlinien bis heute größtenteils diesem sehr nüchternen, faktenbasierten Zugang und lässt damit die emotionale Komponente der Ernährung meist außen vor.

Die exzessive Beschäftigung mit der Ernährung und die damit verbundene Etablierung in der Mainstreamkultur machten dann auch die Kehrseite des Abnehmens erstmals zum Thema, wie Ernährungswissenschafterin und Foodtrendforscherin Hanni Rützler weiß: "In den 1980er-Jahren wurde erstmals breiter über Essstörungen gesprochen, und man hat angefangen, sich wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen."

Wende durch Lebensmittelskandale

Zu einem Umdenken in Sachen Ernährung und Diät kam es erstmals in den frühen Nullerjahren. Lebensmittelskandale wie etwa der BSE-Skandal führten zu einem ersten Bruch im Narrativ von der grundsätzlich positiven Diät, sagt Bartelmeß. Auf einmal rückten Produktionsprozesse, Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit stärker in den Fokus.

Und eine weitere Erkenntnis gesellte sich dazu. "In den vergangenen zehn, 15 Jahren hat sich die Körperwahrnehmung verändert, es ist ein Bewusstsein dafür entstanden, dass Diät meist nur eine Vorstufe für die nächste Diät ist und man aus dem Kreislauf fast nicht mehr herauskommt. Die Hoffnung auf schnelles Abnehmen hat sich einfach zerschlagen", weiß Hanni Rützler.

Das spiegelt auch die mediale Berichterstattung wider. Während früher jedes Frauenmagazin regelmäßig Diäten auf dem Cover bewarb und das auch ein sicheres Kaufargument war, haben sich zeitgemäße Publikationen aus dem Sektor in den vergangenen zehn Jahren von dieser Praxis beinahe völlig verabschiedet. Das bedeutet nicht, dass die Ernährung aus dem Fokus gerückt ist, im Gegenteil. Rützler erklärt: "Natürlich gibt es die Diäten noch, aber sie haben sich von der Ausrichtung her stark verändert. Heute geht es um gutes Körpergefühl und einfache Integration in den Essalltag. Das ist mit ein Grund, warum Intervallfasten so populär ist."

Und es sind ethische und moralische Aspekte dazugekommen, denn das Verständnis von Lebensmittelqualität ist im Wandel. Rützler betont: "Wenn man darüber diskutiert, wie viel Fleisch gut ist und wie Tiere gehalten werden, sind das die richtigen Fragestellungen. Nachhaltigkeit, Klimawandel, die Pandemie, der Krieg – diese Krisen verändern die Wahrnehmung. Es geht vermehrt um die eigene Resilienz, aber auch um die Zukunftsfitness unseres Ernährungssystems. Dabei erfahren wir uns nicht mehr als Krone der Schöpfung, sondern eher als Teil eines Ganzen."

Ernährung und ein gesunder Lebensstil sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch komplett aus der "Frauenecke" herausgetreten, haben sich in der breiten Gesellschaft etabliert. Selbst Magazine wie "Stern" oder "Der Spiegel" machen damit ganze Magazine auf. Das hat auch damit zu tun, dass sich der Zugang zum Kochen verändert hat. Mit "schuld" daran ist der englische Fernsehkoch Jamie Oliver, meint Foodtrendforscherin Rützler: "Auf einmal ging es nicht mehr um das klassische Versorgungskochen, Essenszubereitung wurde zu einem Hobby und zur Selbstdarstellung, vor allem auch für Männer."

Ich esse, also bin ich – Diät in neuem Gewand

Stichwort Selbstdarstellung: Mittlerweile definieren sich ganze Gruppen über ihr Essen, die Diskussion über die richtige Ernährung hat fast schon religiöse Züge angenommen. "Das hat ganz viel mit Selbstwert, aber auch Selbstausdruck und Selbstverwirklichung zu tun", sagt die Diätologin und Ernährungstherapeutin Isabel Bersenkowitsch.

Und sie bestätigt, dass zwar das Wort Diät aus dem Sprachgebrauch verschwindet, nicht aber das Konzept als Programm zur Gewichtsreduktion. "Programme zur Gewichtsreduktion sind extrem präsent, sei es Intervallfasten, Low Carb oder Kalorienzählen. Aber es sind auch neue Programme dazugekommen. Auf Social Media boomen zum Beispiel Challenges wie "30 Tage keinen Zucker essen." Argumentiert werden diese Programme der freiwilligen Reduktion mit dem dadurch versprochenen Gesundheitsbenefit – in Wahrheit unterscheidet sie aber im Normalfall wenig bis nichts von der klassischen Diät.

Dem Diät-Konzept sind mittlerweile sogar noch mehr Menschen verfallen, auch immer mehr Männer achten bewusst auf ihre Figur, pimpen ihren Körper mit eiweißreicher Nahrung oder diskutieren darüber, wie sie sportliche Höchstleistungen bei veganer Ernährung bringen können. Ernährungssoziologin Bartelmeß sieht hinter dieser Entwicklung auch eine Neudefinition des Männlichkeitsbilds: "Unter Männern herrscht oft immer noch das Vorurteil, man müsse Fleisch essen. Da werden jetzt Mahlzeiten abgewandelt und neu definiert. Diese Bewegung hat durchaus positive Aspekte. Aber man könnte sie auch so interpretieren, dass sich Männer auf einmal freiwillig in einer Art beschränken, wie es früher nur Frauen getan haben."

Gewichtsneutrale Ansätze etablieren

Das beinahe schon Faszinierende an dieser Dynamik für Ernährungstherapeutin Bersenkowitsch: "Die Menschen geben sich immer selbst die Schuld, wenn sie ihre von wem auch immer definierten Ernährungsziele nicht erreichen. Wäre es nicht so zynisch, wäre das geniales Marketing: Man verkauft ein kaputtes Produkt, und die Konsumentinnen und Konsumenten geben sich selbst die Schuld daran, dass es nicht funktioniert."

Die Lösung für dieses riesige Dilemma sieht Bersenkowitsch im intuitiven Essen – also das eigene Hungergefühl wiederzuentdecken und auf den Körper zu hören, was er braucht: "Denn der weiß im Grunde ganz genau, was ihm guttut, nur haben ganz viele verlernt, das auch zu spüren." Dazu braucht es aber noch ein gewaltiges Umdenken in der Gesellschaft, denn "jeder Diät geht der Wunsch voraus, etwas an seinem Körper zu verändern, weil man sich nicht gut genug fühlt". Derzeit passiert schon einiges in diesem Bereich, Schönheitsbilder und Körpernormen verändern sich, Individualität bekommt viel mehr Raum – aber es ist noch ein weiter Weg zu gehen.

Und Bersenkowitsch plädiert für einen gewichtsneutralen Ansatz auch im Gesundheitssystem: "Welches Gewicht gesund ist, wird in unserem gewichtszentrierten System an den Body-Mass-Index gekoppelt. Der BMI wurde aber 1832 von einem Mathematiker entwickelt, dessen Studienpopulation rund 5.000 weiße Männer waren. Die Referenzwerte haben also recht wenig Aussagekraft für Frauen und Menschen anderer Ethnizitäten." Man kann außerdem anhand dieser Klassifizierung keine verlässlichen Rückschlüsse auf individuelles Gesundheitsverhalten und Körperzusammensetzung ziehen.

Darüber hinaus wird der BMI mit richtigem oder falschem Gewicht assoziiert, wobei "falsch" – also laut BMI zu viel Gewicht – das Gefühl vermittelt, man sei selbst schuld, sagt Bersenkowitsch. "Das fördert aber Gewichtsdiskriminierung und Stigmatisierung. Körperdiversität ist Teil der menschlichen Existenz, und der BMI ist keine Diagnose." Diese Einteilung vermittelt Mehrgewichtigen automatisch, sie seien selbst schuld an ihrem Problem, man müsse sich doch nur ein bisschen zusammenreißen. "Das stimmt aber so nicht." Viel wichtiger, als Abnehmaufforderungen auszusprechen, sei es, an den Ursachen zu arbeiten. Dann werde das Symptom Mehrgewicht von ganz allein verschwinden. (Pia Kruckenhauser, 6.5.2022)