Es kann aufregend sein, sich vorzustellen, wie die Welt in 100 Jahren aussehen könnte. Genauso spannend ist aber die Frage, wie zukünftige Generationen auf die heutige Welt blicken werden: Was will man ihnen mitteilen? Welche digitalen Artefakte werden Historiker unter meterhohen Datenschichten ausgraben? Wird man in 100 Jahren noch Emojis verstehen?

Die Hieroglyphen der alten Ägypter können noch heute entschlüsselt werden. Doch Informationen werden heute nicht mehr in Stein gemeißelt, sie werden auch immer seltener auf Papier gedruckt, sondern elektronisch und digital verarbeitet. Tweets, Insta-Posts, Tiktok-Videos – jeder Mensch produziert pro Sekunde 1,7 Megabyte Daten. Das entspricht in etwa dem Speicherplatz einer Diskette. Müsste man all die Floppy Disks irgendwo aufbewahren, man geriete schnell in Platznot.

Große Teile des Gedächtnis der Menschheit lagert auf Serverfestplatten. Sie halten nicht unendlich lang.
Foto: AFP/ALAIN JOCARD

Das Internet hat schon viel vergessen

Der einstige Google-Chef Eric Schmidt sagte einmal, dass alle zwei Tage so viele Informationen geschaffen werden, wie die Menschheit bis 2003 in ihrer gesamten Zivilisationsgeschichte produziert hat: fünf Exabyte. Das ist etwa 100.000 Mal so viel, wie die Library of Congress an gedruckten Büchern in ihrem Bestand hat.

Doch angenommen, jemand sucht im Jahr 2100 bei einer Suchmaschine nach Facebook: Würde man noch Spuren des sozialen Netzwerks finden? Was ist mit den 4,9 Milliarden toten Facebook-Nutzern, die es laut einer Studie der Oxford-Universität bis 2100 geben soll? Wird man in 100 Jahren wissen, was HTML, Webbrowser und Windows 95 waren?

Das Internet ist keine Bibliothek von Babel, wie sie der Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner gleichnamigen Erzählung beschrieben hat, wo man einfach ein Buch aus dem Regal zieht, sondern bloß ein dezentrales Netzwerk von Protokollen und Knoten – und auch ein ziemlich flüchtiges. Sein Inventar, die Texte, GIFs und Codes, die man dereinst als Exponate in einem noch zu gründenden Internet-Museum erwartet, lagern nur als Kopien auf diversen Rechnern. Das Internet hat, obwohl gerade mal drei Jahrzehnte alt, schon sehr viel von seiner Geschichte vergessen.

Verlorene Erinnerungen

Zwar gibt es mit dem Internet Archive eine gemeinnützige Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in einer alten Kirche in San Francisco Screenshots von Webseiten zu archivieren. Die Wayback Machine hat mittlerweile 667 Milliarden Webseiten gespeichert. Trotz dieses Inventarisierungsversuchs sind zahlreiche Webseiten, Datenbanken und Dokumente aus dem Netz verschwunden. Online-Tagebücher oder Homepages, die man in den 90ern bastelte, wabern heute wie Weltraumschrott im Cyberspace.

Auch Algorithmen sind digitale Artefakte. Sie werden nirgendwo niedergeschrieben oder gespeichert – zumindest nicht öffentlich. Künftige Historiker werden daher möglicherweise gar nicht verstehen, wie das Internet funktioniert hat.

Wie warnen wir künftige Generationen vor unserem strahlenden Erbe?
Foto: imago images/imagebroker

Längst ist davon unsere digitale Erinnerungskultur betroffen. So sind zahlreiche Bilder des 11. September und damit wichtige historische Zeitdokumente verlorengegangen, weil Adobe den Support für seinen Flash-Player eingestellt hat – das Format wird nicht mehr unterstützt. Das soziale Netzwerk Myspace hat infolge eines Fehlers einen gigantischen Datenverlust erlitten – zwölf Jahre Musik und Fotos, einfach so verloren. Es gibt kein Back-up, nichts. Auch die Videobänder der Mondlandung sind für immer verschwunden.

Auch im analogen Zeitalter gab es Datenverluste: Beim Brand der antiken Bibliothek von Alexandria wurden hunderttausende Papyrusrollen zerstört. Die digitalen Speichertechnologien haben allerdings eine viele kürzere Halbwertszeit als etwa das Pergament der Jesajarollen, die 2000 Jahre im staubigen Wüstenklima in einer Felshöhle am Toten Meer lagerten. Serverfestplatten, auf denen Abermilliarden Notizen, Fotos und Nachrichten der "Cloud" gespeichert sind, haben nur eine Lebensdauer von zwei bis zehn Jahren.

Digitale Amnesie

Vint Cerf, Chief Internet Evangelist bei Google und einer der "Väter" des Internets, warnte vor einigen Jahren vor einem "digitalen Dark Age": Künftige Generationen könnten unter einer Art digitaler Amnesie leiden, weil alte Formate nicht mehr lesbar seien.

In einer ehemaligen Kohlemine im norwegischen Spitzbergen werden Datenschätze für die Zukunft aufbewahrt.
Foto: Arctic World Archive

Um die Menschheit vor einem kollektiven Gedächtnisverlust zu bewahren, ist vor einigen Jahren in einem stillgelegten Kohlewerk auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen ein Archiv eingerichtet worden. Das Arctic World Archive beherbergt unter anderem historische Manuskripte aus der Vatikanischen Bibliothek, Saatgut sowie das Betriebssystem MS-DOS, dessen Quellcode auf Filmrollen gepresst wurde. In einem Stahlcontainer in 250 Meter Tiefe sollen die Artefakte im arktischen Eis 1000 Jahre sicher lagern und für nachfolgende Generationen aufbewahrt werden – vorausgesetzt, der Klimawandel kommt nicht in die Quere. Denn dann würden die Kulturschätze unter Wasser stehen und zerstört.

Es geht bei der Archivierung von Informationen aber auch um Fragen öffentlicher Sicherheit. Wie warnt man etwa die Nachwelt vor den Gefahren des Atommülls, der noch hunderttausende Jahre strahlen wird?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Atomsemiotik, ein spezieller Zweig der Zeichenlehre. Die Vorschläge reichen von einer genmanipulierten "Strahlenkatze", die als eine Art lebender Detektor dem Menschen durch visuelle Zeichen wie etwa eine Verfärbung des Fells atomare Gefahren signalisiert, bis hin zu einer "Atompriesterschaft", die ähnlich wie die katholische Kirche die – in diesem Fall nicht frohe – Botschaft in kanonischer Form aufbewahrt und über Generationen weiterverbreitet. Die Atomsemiotik verstand radioaktiven Müll als Kommunikationsproblem. Werden die Menschen diese Zeichen in Zukunft verstehen? Wird man im Datenmüll von Fake News und Verschwörungstheorien Hinweise für ein Atomendlager finden? Man kann darüber nur spekulieren.

Fakt ist, dass die Menschheit noch nie so viele Informationen wie heute produziert hat. Doch im Glauben, mit immer größeren Speichern gegen das Vergessen anzukämpfen, könnte sie am Ende an den entscheidenden Stellen Erinnerungslücken schaffen. (Adrian Lobe, 5.5.2022)