Der bosnische Serbenführer Milorad Dodik macht aus seiner Nähe zu Wladimir Putin keinen Hehl.

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Zu den russischen geopolitischen Ziele gehörte als Konstante immer die Möglichkeit des Zugangs zu den Meeren, erklärt der Analyst Ismet Fatih Čančar im STANDARD-Interview. Das Gebiet des Mittelmeers sei dabei von vitalem Interesse für Russlands hegemoniale Politik.

Der bosnische Politiker und Separatist Milorad Dodik lasse sich für diese Ziele von russischer Seite instrumentalisieren. Auf Anweisung des Kreml destabilisiere er Bosnien und Herzegowina dauerhaft, indem er mit der Abspaltung von Teilen seines Territoriums droht. Die westlichen Player sähen dabei derzeit eher hilflos zu und agierten kraftlos und unglaubwürdig.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Stabilität und Sicherheit in Bosnien und Herzegowina angesichts der anhaltenden Drohungen des Chefs der Partei SNSD, Milorad Dodik, eigene Institutionen für den Landesteil Republika Srpska (RS) zu schaffen?

Čančar: Es handelt sich um einen sorgfältig ausgearbeiteten Plan, um die Architektur des Staates zum Einsturz zu bringen. Ziel ist es zunächst, die Institutionen und Prozesse des Staates durch ständige Blockaden und Behinderungen sinnlos und obsolet zu machen. Bosnien und Herzegowina soll damit – statt als unantastbarer Staat, der seine Existenz auf internationales Recht und international anerkannte Grenzen stützt – als eine Gruppe mehrerer Entitäten dargestellt werden. Dazu gehört das Ignorieren der Entscheidungen des Verfassungsgerichts.

Aufgrund der Passivität internationaler Akteure, die erst jetzt aus dem Winterschlaf erwacht sind, nicht vorhandener innerstaatlicher Kontrollmechanismen zur Eindämmung dieser Prozesse, Korruption in wichtigen Institutionen, fehlender notwendiger euroatlantischer Reformen und der Unterstützung schädlicher externer Akteure befindet sich Bosnien und Herzegowina in der schwersten politischen und sicherheitspolitischen Krise seit dem Krieg der 1990er-Jahre.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Dodik und dem Kreml?

Čančar: Zu den russischen geopolitischen Ziele gehörte als Konstante immer die Möglichkeit des Zugangs zu den Meeren. Das Gebiet des Mittelmeers, der Adria ist von vitalem Interesse für Russlands hegemoniale Politik. Ein Beispiel dafür ist Syrien, aber auch die aktuelle Invasion in der Ukraine und der Kampf um die Kontrolle über das Schwarze Meer. Die Existenz slawisch-orthodoxer Sentimente auf dem Balkan fördert und erleichtert russische Ambitionen. Serbien, teilweise Bosnien und Herzegowina und Montenegro sind ein idealer geopolitischer Raum für die Infiltration russischer Interessen.

Dodik ist dabei nur ein Auftragnehmer eines größeren geostrategischen Projekts. Auf Anweisung des Kreml, die er überhaupt nicht mehr verschweigt, destabilisiert er Bosnien und Herzegowina dauerhaft, indem er mit der Abspaltung von Teilen seines Territoriums droht. Eine Abspaltung würde sicherlich einen internen bewaffneten Konflikt provozieren, der Russland die Möglichkeit geben würde, den bosnischen Serben militärisch Hilfe zu leisten, und damit die Tür zu einem politischen Schlichtungsverfahren öffnen würde. In der Folge könnten russische Interessen langfristig auf dem Balkan, dem weichen Bauch Europas, eingebunden werden. Ein "neues Transnistrien" auf dem Balkan mithilfe sezessionistischer Kräfte in der RS böte für Wladimir Putin ein Druckmittel in der Region und auf dem Kontinent.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Rolle des Amts des Hohen Repräsentanten (OHR) in dieser Situation?

Čančar: Das OHR agiert kraftlos und wenig überzeugend. Die internationale Gemeinschaft muss, wenn sie Friedenskonsolidierung und Stabilität erreichen will, enorme Energie investieren, um die Autorität des OHR zurückzugewinnen. Ideen, das OHR zu schließen, zielen darauf ab, eine Institution zu eliminieren, die als ausgleichender Faktor dient, während gleichzeitig eine dysfunktionale, diskriminierende Verfassung beibehalten wird, die den Fortschritt im Land weiterhin ersticken wird. Das OHR war während des letzten Jahrzehnts weitgehend unvorbereitet in seinen Bemühungen, die rückschrittliche Politik zu bekämpfen. Denn auf beiden Seiten des Atlantiks hat man fälschlicherweise geglaubt, dass die Vertiefung der Demokratie auf dem Westbalkan von alleine kommen würde.

Die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft in Bosnien ohne den Einsatz der Instrumente des OHR ist schwierig, weil die Gegenseite von nationalistischen, autokratischen Mächten geführt wird, die an der Auflösung des Staates arbeiten. Der jüngste Einsatz der Bonner Befugnisse ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es muss jedoch eine langfristige Strategie geben, die die nächsten Schritte klar definiert, wenn die Republika Srpska mit ihren geplanten Aktionen fortfährt.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die aktuelle Politik der USA auf dem Balkan?

Čančar: In einer Zeit, in der wir Zeugen tektonischer Veränderungen in der europäischen Sicherheitsarchitektur sind, müsste die Unterstützung mutiger und konkreter sein, wenn es um den Weg in die Nato geht, aber auch bei der Reform des politisch-verfassungsrechtlichen Rahmens. Das Interesse am Frieden auf dem Westbalkan entspricht dem strategischen Interesse der USA, den Durchbruch des russischen Einflusses in der Region aufzuhalten.

Das geht aber nur, wenn Bosnien und Herzegowina in das euroatlantische Bündnis übergeht. Leider zeigen die jüngsten Botschaften und Positionen von US-Beamten eine gewisse Tendenz dazu, Separatisten zu stärken und denjenigen mit Appeasement zu begegnen, die den Frieden in Bosnien und Herzegowina zerstören wollen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Rolle Serbiens gegenüber Russland und die Aufrüstung Serbiens durch Russland und China?

Čančar: Jüngst hat ein Universitätsprofessor aus Belgrad, Miloš Ković zu dem Thema gemeint: "Die Frage des Überlebens unserer Mitbürger im Kosovo und in Metohija, unserer Landsleute in der Republika Srpska, sind Fragen, die von Russland abhängen." Diese Aussage zeigt deutlich die Rolle Russlands für regionale Akteure, die versuchen, die unvollendeten Kriegsziele der 1990er-Jahre auf dem Balkan zu erreichen. Die Realisierung künftiger "Großstaaten"-Projekte setzt ein hohes Maßes an Kampfbereitschaft und Bewaffnung voraus. In den letzten Jahren war Serbien absolut führend bei den Militärausgaben – fast drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts flossen dorthin. Global gesehen ist jedoch das Trio Serbien, Russland, China die Achse, durch die der Westbalkan destabilisiert, das Nato-Bündnis an den Rand gedrängt und die Nachbarstaaten in der Region von Serbien dominiert werden könnten.

Besorgniserregend ist, dass die Westmächte, die USA und die EU, es bisher nicht für notwendig erachtet haben, dieser Politik ein Ende zu setzen, sondern Serbien als "regionalen Stabilisator" – als Vorkämpfer der europäischen Integration – propagieren. Deshalb kann man nur die Lehren aus der Ukraine unterstreichen: Schwache Staaten auf dem Balkan werden gezwungen sein, militärische Abschreckungsmittel und die Nato-Integration als die einzig akzeptable Option in Betracht zu ziehen.

STANDARD: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Eufor-Mission in Bosnien und Herzegowina vom UN-Sicherheitsrat im Herbst nicht verlängert wird, weil Russland nicht zustimmen wird. Was sollte man tun, um den Frieden trotzdem zu sichern?

Čančar: Es bedarf erstens einer starken, entschlossenen Reaktion gegen diejenigen, die daran arbeiten, den Frieden und die Sicherheit von Bosnien und Herzegowina zu bedrohen. Zweitens müssen die westlichen Kräfte die probosnischen Kräfte grundlegend und konkret unterstützen. Sollte die Eufor-Mission wirklich zu Ende gehen, eröffnet dies eine Reihe möglicher Optionen. In Übereinstimmung mit dem UN-Mandat nach Kapitel VII, dem Dayton-Anhang 1A und dem Berlin-Plus-Abkommen hat die Nato die Befugnis, in Bosnien stationiert zu werden. Amerikanische und britischen Truppen sollten die Lücke als Übergangsmaßnahme füllen. Darüber hinaus müssen die Westmächte daran arbeiten, die Verteidigungsfähigkeit von Bosnien und Herzegowina zu stärken und Zusammenarbeit mit der Nato zu ermöglichen.

Angesichts der Folgen und Realitäten der russischen Aggression gegen die Ukraine ist ein klarer Weg zu einer beschleunigten Nato-Mitgliedschaft notwendig. Drittens aber muss der Westen einen glaubwürdigen Rahmen schaffen, in dem die Reformen des verfassungsmäßigen und politischen Systems fortgesetzt werden können. Die Prinzipien der Reformen müssen dabei mit bereits etablierten Praktiken und Werten übereinstimmen – nach dem Vorbild der EU- und US-Demokratien. Dies berechtigt zur Einführung einer modernen, demokratischen, staatsbürgerlich orientierten Verfassung, die in den meisten europäischen Gesellschaften existiert.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Pläne für einen Flughafen in Trebinje in der Nähe von Kroatien, der von antiwestlichen Kräften genutzt werden könnte?

Čančar: Der Flughafen in Bosnien und Herzegowina wird durch Direktinvestitionen Serbiens gebaut, auch die Eigentumsfrage ist damit infrage gestellt. Nach ersten Informationen wird der Flughafen zudem eine längere Start- und Landebahn haben als einige andere größere Regionalflughäfen und zudem nur 20 Kilometer entfernt von der Adria liegen. Angesichts der aktuellen Beziehungen in der Region, des russischen Einflusses in Serbien und der RS würde dies damit de facto den Durchstich Russlands zum Meer vorantreiben.

Denn wer kann mit Sicherheit sagen, dass russische oder serbische Kampfflugzeuge nicht künftig den Flughafen in Trebinje als mögliche Basis für ihre Aktionen betrachten werden, insbesondere angesichts der Verbindungen Dodiks zum Kreml? Sicher ist, dass ein solches Szenario die Sicherheit der Nato auf dem Westbalkan gefährden würde. (Adelheid Wölfl, 4.5.2022)