Bereits in Friedenszeiten ist AKW-Sicherheit ein heißes Thema. Dass Atomanlagen in der Ukraine nun auch zu Kriegsschauplätzen wurden, hat die Debatte auf eine neue Ebene gehoben.

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Spätestens am 4. März 2022 wurde klar, dass Atomwaffen nicht die einzige nukleare Gefahr sind, um die man sich im russischen Angriffskrieg in der Ukraine Sorgen machen muss. Damals gingen die Meldungen um die Welt, dass das Atomkraftwerk Saporischschja zum Kriegsschauplatz wurde.

Es gab Feuergefechte, wobei ein Trainingsgebäude in Brand geriet, ein Trockenlager von Artillerie getroffen und ein Reaktorgebäude beschädigt wurde. Zuvor kam es bereits bei der Atomruine von Tschernobyl zu Kämpfen, was einen potenziell gefährlichen Stromausfall und erhöhte Strahlenwerte durch Staubentwicklung zur Folge hatte.

Das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Wiener Boku widmete der Bedrohungslage, die von AKWs im Kriegsgebiet ausgehen könnte, vergangene Woche eine Onlineveranstaltung. Experten aus Wissenschaft, Militär und Bundesverwaltung sprachen über Bedrohungslagen, mögliche Auswirkungen und Maßnahmen im Ernstfall.

Frühwarnsystem

Diese "Risikobetrachtungen", die vom langjährigen Leiter der Nuklearkoordination der Bundesregierung, Andreas Molin, moderiert wurden, fanden im Andenken an den im März verstorbenen Juri Andrejew statt. Der aus Russland stammende "Chefliquidator" von Tschernobyl, der die Aufräumarbeiten nach dem Reaktorunfall von 1986 geleitet hatte, lebte seit 1992 in Wien und fand an der Boku eine neue berufliche Heimat.

Die gute Nachricht für Österreich: Sollte in der Ukraine Radioaktivität frei werden, wissen die Behörden in Österreich dank der nationalen und internationalen Messstellen sowie einer engen Vernetzung mit ausländischen Partnern in kürzester Zeit Bescheid. Das versicherte Peter Hofer von der Abteilung Strahlenschutz des Klimaschutzministeriums.

In Österreich wurde in Reaktion auf die Katastrophe in Tschernobyl ein Frühwarnsystem implementiert. Mittlerweile stehen umfassende Diagnose- und Prognosewerkzeuge bereit, die die Ausbreitung radioaktiver Substanzen vorhersagen. Demnach bedarf es einer enorm starken Freisetzung, damit eine relevante Gefahr für Österreich besteht.

Worst-Case-Szenario

"Wir haben eine Worst-Case-Berechnung mit einem schweren Unfall im westukrainischen AKW Riwne gemacht. Selbst bei ungünstigsten Wetterverhältnissen ist auszuschließen, dass in Österreich Maßnahmen wie das Einnehmen der Kaliumjodidtabletten oder das Verbleiben in den Häusern notwendig sind. Im schlimmsten Fall könnten Maßnahmen im Lebensmittelbereich zu setzen sein", betont Hofer.

Dennoch: Zum ersten Mal sind AKWs nun Schauplatz von Kriegshandlungen. Neben den vier stillgelegten Blöcken von Tschernobyl gibt es in der Ukraine 15 Reaktorblöcke an vier aktiven Standorten. Dort, wo Brennelemente noch im Betrieb sind, ist für den Physiker und Risikoforscher Nikolaus Müllner von der Boku auch das Risiko am größten.

"In den Sicherheitsnachweisen der AKWs sind kriegerische Ereignisse außen vor gelassen. Im schlimmsten Fall stellt man sich wohl einen terroristischen Anschlag mit Unterstützung eines Insiders vor", erklärt Müllner. Für ihn stellt sich nicht nur die Frage, wie gut AKWs in Kriegswirren geschützt sind, sondern auch, wie die Sicherheitskonzepte nach diesen Kriegserfahrungen zu erweitern sind.

Meteoriteneinschlag und Flugzeugabsturz

Derzeit sehen sie den Schutz vor Naturereignissen und technischen Gebrechen bis zu einer gewissen Eintrittswahrscheinlichkeit vor – die Gefahr von Meteoriteneinschlägen ist beispielsweise nicht mehr berücksichtigt.

Neben potenziell gefährlichen Situationen wie der Zerstörung von Infrastruktur wie Notstrom, Turbinenhalle, Abklingbecken oder Frischdampfleitungen wäre das wohl gefährlichste durch Kriegshandlungen hervorgerufene Szenario eine Kernschmelze, bei der sowohl der Reaktordruckbehälter als auch das umgebende Containment zerstört wird. Müllner: "Dann haben wir sehr erhebliche Freisetzungen von radioaktivem Material in kurzer Zeit."

Der Großteil der Reaktoren in der Ukraine ist vom Typ WWER 1000. Die Wände des Containments sind hier aus 1,2 Meter starkem Spannbeton – eine Struktur, die laut Sicherheitsnachweis etwa dem Aufprall eines zehn Tonnen schweren Flugzeugs mit 750 km/h standhalten muss. Was braucht es nun, um eine Schutzvorrichtung dieser Art mit "militärischen Einsatzmitteln" zu durchbrechen? Bernhard Traxl vom ABC-Abwehrzentrum des Bundesheeres, der mit Müllner bei der Analyse kooperiert hat, hebt mehrere Beispiele hervor.

Bunkerbrechende Waffen

Dazu gehören bunkerbrechende Gefechtsköpfe, die mit ihren speziell gehärteten Oberflächen mehrere Meter Stahlbeton durchschlagen, bevor sie explodieren. "Wenn dieser Gefechtskopf im Inneren eines Reaktors detoniert, ist es sicher, dass eine Zerstörung des Containments stattfindet", sagt Traxl.

Weiters sind die wesentlich kleineren Hohlladungsgefechtsköpfe, die üblicherweise gegen gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt werden, eine Gefahr. Ein stark beschleunigter Metallstachel dieser Waffen hätte die Energie, das Containment zu durchschlagen, ohne aber im Inneren mit einer Explosion weiteren Schaden anzurichten. Das Resultat wäre ein Leck in der Schutzhülle.

Kaum Schutzmechanismen

Traxl geht nicht von einem vorsätzlichen Beschuss der AKWs in der Ukraine aus – dagegen ließen sich kaum Schutzmechanismen finden. Es seien aber dennoch Szenarien denkbar, in denen es zu Beschuss kommt. So könnten sich etwa Soldaten in einem AKW verschanzen, weil die Anlage einem Bunker gleicht, woraufhin die Gegner zu den erwähnten Waffensystemen greifen.

Wenn auch die Stromzufuhr ausfällt und Hilfestellung unmöglich ist, wäre eine Kernschmelze mit Austritt von radioaktivem Material möglich. "Es müssen schon zwei, drei Faktoren zusammenkommen, dass ein Beschuss erfolgt", betont Traxl.

Natürlich ist aber auch ein unabsichtliches – versehentliches oder von Unwissenheit geleitetes – Bombardement nicht auszuschließen. Besonders gefährlich wäre das in Riwne, wo die Anlagenarchitektur des hier errichteten WWER-440-Typs das Abklingbecken vergleichsweise ungeschützt lässt, wie Müllner hervorhebt. Dennoch: "Wenn man es nicht darauf anlegt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass das Containment durchschlagen wird", lautet auch das Resümee des Risikoforschers. (Alois Pumhösel, 4.5.2022)