Jason Pierce alias Spiritualized baut auf seinem neuen Album weiter an den Türmen des Wahnsinns.

Foto: Sarah Piantadosi

Wäre da nicht seine liederliche Vergangenheit als Süchtiger, er ginge als ewiger Ministrant durch. So wie er ein Lied intoniert, beginnen andere ihre Abbitten. Demütig genuschelte Geständnisse, die die eigene Kläglichkeit offenlegen. Es sind die üblichen Unzulänglichkeiten, die uns die Zehn Gebote versagen, Verfehlungen eines stürmischen Herzens. Doch wenn Jason Pierce die Liebe kommt, muss das Gefühl raus. Meist erklingt zuerst ganz klein sein Stimmchen, denn bei aller Begeisterung für seine Kunst, ein begnadeter Sänger ist Pierce nicht.

Doch während er als Chef der Band Spiritualized Schuld bekundet, erhebt sich im Hintergrund ein nahendes Donnerwetter, ein Sturm. So klein Pierce erscheint, so mächtig ist seine Musik.

Dafür bemüht er die Ideen des Phil Spector und seiner Wall of Sound. Diese Mittel hat er schon früh eingesetzt, als er mit Peter Kember die Gruppe Spacemen 3 gründete. 1982 war das, und neben ihrer Liebe zu US-Punk und Psychedelic war da noch jene Neigung, die Pierce und Kember eine Nachrede als Drogenfresser eingebracht hat – was die beiden nie geleugnet haben, im Gegenteil.

Chemische Keule

In der Trance der chemischen Keule frönten Spacemen 3 einer dröhnenden Musik. Diese erzeugten sie faul im Sitzen, durch stures Wiederholen von ein, zwei Akkorden und mit Gafferband festgeklebten Orgeltasten, bis die Songs hypnotisch wurden, sich über den Gehörgang des Systems bemächtigten, das Ganze so laut wie möglich.

Spiritualized

Diesem Zugang ist Pierce mit seiner 1990 gegründeten Band Spiritualized treu geblieben, wie sein neues Album wieder belegt. Everything Was Beautiful kokettiert erneut mit den Hervorbringungen der pharmazeutischen Industrie, zeigt auf dem Cover eine Medikamentenpackung, die Bandname und Albumtitel aufweist.

Größenwahnsinnig

Als Inhaltsstoffe werden die Lieder angeführt. Damit zitiert er sich selbst, denn das vielen als sein Meisterwerk geltende Album Ladies and Gentlemen We Are Floating in Space kam schon 1997 wie Tabletten verpackt in die Läden. Dieser gängigen Meinung gilt es sogleich zu widersprechen.

Ladies and Gentlemen … mag ihn zum Star gemacht haben, das vier Jahre später entstandene Let It Come Down ist aber das wahre Opus magnum. Es legt die Spiritualität dieser Kunst offen, die dieser gottlos scheinende Musiker in einer Hinwendung zu Soul und Gospel fand. Über hundert Mitwirkende nahm er dafür größenwahnsinnig in die Pflicht: einen Gospelchor, ein komplettes Orchester, Bläser – und stemmte sich dagegen. Diese Reibung zeitigte wahre Monolithen. Lieder wie Türme, deren Enden in den Wolken verschwinden, während Pierce mit dem Chor nach dem Call-and-Response-Schema afroamerikanischer Kirchenmusik kommuniziert.

Spiritualized

Everything Was Beautiful ist nun um eine Portion Melancholie angereichert, die schon der Titel transportiert. Schließlich hegte Pierce vor ein paar Jahren noch Zweifel, ob er je wieder ein Album erschaffen könne. Everything Was Beautiful ist ein zwischen Garagenrock und kathedralischem Freak Out oszillierendes Werk.

Es übersetzt Drogenerfahrung und Läuterung in einen erhebenden Sog. Da können selbst weltliche Liebesbekundungen wie Let It Bleed (For Iggy) an den Punk-Vater Iggy Pop sakral anmuten. Mit Loops, Bläsern, Moog-Synthesizer, Farfisa-Orgel, Glockenspiel, Harmonika, Melodica, Fender Rhodes, einer Batterie an Gitarren, Bässen und, und, und.

Keine Suppe, kein Brei

Das ergibt über sieben Stücke einen Heidenlärm, doch dermaßen arrangiert, dass die Songs nie Suppe oder Brei werden. So irre sich The A Song (Laid in Your Arms) auswächst, am Ende ist es die Pracht und die Herrlichkeit, die er gebiert.

Pierce hat sich über die Jahre vom Ministranten zum Zeremonienmeister gewandelt, der in unschuldigem Weiß im Zentrum dieses Sturms sitzt und seiner Vision und seiner Mission folgt. Trends kommen und gehen, Pierce bleibt Pierce. Und selten war er so nahe an der Erfüllung seines Auftrags wie auf diesem Album. (Karl Fluch, 4.5.2022)