Er gilt manchen als unbequemer Zeitgenosse: Peter Weibels Themen und Thesen fordern seit vielen Jahren die kritische Öffentlichkeit heraus.

Foto: Karl Schöndorfer TOPPRESS

Knapp 200.000 Unterschriften zählte der offene Brief, der seit Ende letzter Woche die deutsche Öffentlichkeit polarisiert, am Dienstagnachmittag. Bundeskanzler Olaf Scholz wird darin aufgefordert, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern, "weder direkt oder indirekt". Als Initiatorin wähnte man Alice Schwarzer, auf deren Emma-Website der Brief erschien. Tatsächlich war es aber der österreichische Medientheoretiker und Leiter des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe, Peter Weibel, der die Initiative ergriff. Uns erklärte er schriftlich seine Beweggründe.

Weibel: Ein Text von Alice Schwarzer in der Zeitschrift "Emma" hat so sehr meinen eigenen Standpunkt geteilt, dass ich ihr schrieb, ob wir nicht gemeinsam etwas unternehmen könnten. Daraus entstand der offene Brief. Uns alle treibt die Sorge um, dass die Lieferung schwerer Waffen den Krieg verlängert – dadurch die Vernichtung menschlicher Existenzen und der Blutzoll steigen. Wie auch immer, es wird ein Ende des Krieges geben, und an diesem Ende wird weder eine totale Kapitulation der Ukraine noch ein Sieg über Russland stehen.

Was aber dann? Im Brief skizzieren die 28 Erstunterzeichnenden, unter denen so prominente Namen wie Liedermacher Konstantin Wecker, Schauspieler Lars Eidinger, Autorin Juli Zeh oder der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin aufscheinen, als einzigen Ausweg einen Kompromiss. Angesichts dessen, wie Putin agiert, scheint dieser in weiter Entfernung zu liegen, was den Initiatoren viel Kritik bis hin zu Schmähungen einbrachte. Der Soziologe Armin Nassehi etwa argumentiert, dass ein Kompromiss in der Logik des Briefes nur die bedingungslose Kapitulation der Ukraine sein könne.

Weibel: Von einer bedingungslosen Kapitulation der Ukraine kann nicht die Rede sein. Der Kompromiss wird darin bestehen, dass die Krim und die Teilrepubliken Donbass, Donezk sowie Luhansk anerkannt werden. Je früher man sich auf diesen Kompromiss einigt, umso weniger Gräueltaten werden verübt. Ich vermute, dass in circa zehn Tagen dieser Kompromiss zur Debatte stehen wird. Dieser Krieg kann nicht endlos fortgeführt werden, die Regierung von Selenskyj muss selbst den Punkt erkennen, an dem der Widerstand das eigene Land vernichtet. Russland wiederum erkennt, dass seine Militärmaschinen und -macht nicht so stark sind, wie man es sich vorgestellt hat. Auch hier steigen der Blutzoll und der Materialverlust enorm an. Ich hoffe, dass Transnistrien ebenfalls endlich anerkannt wird, das schon lange ein de facto von Russland unterstütztes Regime ist.

Im Brief wird eindrücklich vor einer Ausweitung des Krieges auf ganz Europa gewarnt, ja vor einem dritten Weltkrieg. Putin könnte die Lieferung von schweren Waffen als Kriegsteilnahme des Westens verstehen und den Krieg auch in andere Länder exportieren. Für die zahlreichen Kritiker des offenen Briefes zeigt die Haltung der Unterzeichnenden vor allem eines: puren Egoismus. Damit der Westen weiterhin in Wohlstand leben könne, müsse die Ukraine geopfert werden.

Weibel: Die Rhetorik, mit der die Unterzeichnerinnen des Briefes überschüttet werden, erinnert nicht an die freie Welt, sondern eher ans russische Staatsfernsehen, das auch die Gegner mit Spott und Hohn überschüttet. Die Warnung vor einem dritten Weltkrieg basiert zugegebenermaßen auf einer Hypothese. Wir wissen, dass die heutigen Atomwaffen viel differenzierter sind als 1945. Man kann heute Grafitbomben zünden, die dazu dienen, elektrische Anlagen wie Kraftwerke, Umspannwerke oder Freileitungen für begrenzte Zeit durch Kurzschlüsse betriebsunfähig zu machen. Also sind Atomschläge wegen ihrer lokalen Begrenzung und Zielgerichtetheit durchaus realistisch, weil sie eben nicht mehr einen unkontrollierten, verheerenden Flächenbrand auslösen.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz selbst sprach von Zynismus, "wenn gesagt wird, man solle sich gegen die Putin'sche Aggression ohne Waffen verteidigen". Am Tag vor der Veröffentlichung des Emma-Briefes lobte bereits Philosoph Jürgen Habermas in einem großen Text in der SZ den deutschen Bundeskanzler für dessen bedächtige Haltung. Aber, fragen sich viele, grenzt es nicht an Überheblichkeit, wenn man den Ukrainern die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit ihres Verteidigungskrieges abnehmen möchte?

Weibel: Wer trifft die Entscheidung über den Verteidigungskrieg? Ist es das Volk oder die Regierung Selenskyj? Als 1968 eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei einmarschierte, rief Präsident Dubček dazu auf, auf gewaltsamen Widerstand zu verzichten, da dieser von vornherein aussichtslos sei. Er hat also nicht sein Volk geopfert. Die fünf Millionen oder mehr Menschen, welche die Ukraine verlassen, fliehen nicht allein vor dem Krieg, sondern sie fliehen auch aus der korrupten Ukraine. Die Menschen, die aus den Kriegsgebieten des Ostens und des Südens der Ukraine kommen, könnten ja im Norden und Westen der Ukraine Sicherheit und Schutz finden. Man muss also die Frage stellen: Verteidigen wir wirklich in der Ukraine westliche Werte wie Freiheit, Demokratie usw.?

Für Weibel ist die Antwort klar. Für ihn ist "die Nato-Problematik" die Quelle des Krieges. Russland habe das Recht, sich bedroht zu fühlen, wenn die Nato ihre Grenzen mit Raketenstationen umzingle. Der Krieg sei ein "Stellvertreterkrieg, weil es in Wirklichkeit ein Kampf gegen die Nato ist". Die Ukraine bezeichnet er als "failed state", in dem die Nationenbildung noch nicht gelungen sei: "Dazu gehören die Etablierung gemeinsamer kultureller Standards und vor allem eine einheitliche Sprache und die Integration verschiedener Teile der Bevölkerung." Mit diesen Sätzen übernimmt Weibel Argumentationslinien, die man auch von Putin kennt, der der Ukraine jegliches Existenzrecht abspricht. Als "Putin-Versteher" möchte Weibel aber nicht gelten, das Existenzrecht spricht er der Ukraine "keineswegs" ab.

Weibel: Das Kapitel der Osterweiterung der Nato ist in meinen Augen der entscheidende Punkt. Immer wieder wird bezweifelt, ob Gorbatschow tatsächlich bei der Auflösung der UdSSR versprochen wurde und bei der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen hatte, es gebe keine Osterweiterung der Nato. Und immer wieder tauchen Dokumente auf, die genau dieses Versprechen belegen. Wenn Putin unterstellt wird, er hänge Großmachtträumen an, dann wird die Einsicht verstellt, dass sein Phantomschmerz ein gebrochenes Versprechen des Westens ist und nicht der Verlust der Sowjetrepubliken.

Weibel, der 1944 in Odessa als Sohn einer Russlanddeutschen und eines Wehrmachtsoffiziers geboren wurde, aber in Oberösterreich aufwuchs, arbeitete 2011 in Russland. Damals übernahm er die vierte Ausgabe der Kunstbiennale Moskau. Die Heftigkeit, mit der die Debatte über den offenen Brief geführt wird, überrascht ihn nicht, auch wenn die Diskussion über die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine eine spezifisch deutsche ist. Abrüstung und Pazifismus sind seit dem Zweiten Weltkrieg Teil der deutschen Staatsräson. Markiert die jetzt ausgebrochene Debatte eine Neujustierung des deutschen Selbstverständnisses?

Weibel: Deutschland hat auf vielen Gebieten seine Hegemonie verloren. Das Einzige, was Deutschland blieb, war eine Hegemonie der Moral. Deutschland hat versucht, durch eine moralische Überlegenheit seine Unterlegenheit in wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen, seine Versäumnisse in der Digitalisierung, im Gesundheitswesen usw. zu kompensieren. Die ausgebrochene Debatte zeigt: Wer hat die richtige Antwort auf den Ukraine-Krieg, wer hat die richtige Position des Guten im Kampf um die Macht? Deswegen wird sie auch nicht in der Rhetorik der Demokratie, sondern selbst in der Rhetorik der Vernichtung geführt. Ich würde sagen, es ist nicht nur ein deutsches Phänomen, hier bricht es aus, aber wird bald ganz Europa erfassen. (Stephan Hilpold, 4.5.2022)