16. Mai 2021: Attila Valter startet in Castel di Sangro in die neunte Etappe, es ist sein dritter und letzter Tag in Rosa.

Foto: EPA/LUCA ZENNARO

Der Countdown läuft. Seit mehr als einem Monat steht ein pinker Quader auf dem Budapester Heldenplatz, dem Hősök tere, und zählt die Sekunden bis zum großen Start am 6. Mai um 12.20 Uhr. Denn der Giro d'Italia beginnt heuer wieder einmal fernab des Stiefels. Nach Reisen nach Jerusalem (2018) und ins niederländische Apeldoorn (2016) gönnt sich die "Grande Partenza" heuer zwei Etappen in und um Budapest sowie eine weitere am Plattensee. Dann packt der Tross zusammen und fliegt gesammelt nach Sizilien, um das rosa Trikot zu jagen, das dem jeweils Führenden und letztlich dem Sieger der Etappenfahrt gebührt.

Sportlich und ökologisch mag man den Sinn der Exkursion hinterfragen. Für die Kassa des Rennveranstalters ist sie allemal ein Gewinn. 21 Millionen Euro, rund acht Milliarden Forint, soll Ungarn der Rennauftakt kosten, Abgaben an die Giro-Organisation inklusive. Pecunia non olet, sagten die alten Römer, und sagen wohl auch die jungen. Geld stinkt nicht. In den offiziellen Worten von Giro-Boss Paolo Bellini tönt das so: "Von dieser Nation, die den Sport liebt, können wir uns sicher ein herzliches Willkommen erwarten!"

Attila Valter soll es richten

Ursprünglich war die Reise des Pelotons an den Balaton schon für 2020 geplant gewesen. Corona hatte etwas dagegen. 2022 steigt die Party unter ganz anderen Vorzeichen als noch vor zwei Jahren. Denn mittlerweile hat Ungarn einen Rennradhelden. Der nun 23-jährige Attila Valter flog beim letztjährigen Giro einige Tage mit dem rosa Trikot des Gesamtführenden durch Italien. In seinem Heimatland löste er damit eine Giro-Euphorie aus. Ansonsten grundvernünftige Menschen gingen plötzlich in Rosa in die Arbeit. Die Puskás-Arena, das 2019 eröffnete Nationalheiligtum des ungarischen Fußballs, erstrahlte zu Ehren Valters in Pink.

Ein neuerliches gutes Abschneiden Valters käme bestimmt auch Premier Viktor Orbán zupass – der im vergangenen Jahr einer der Ersten war, die Valter zum "Maglia Rosa" gratulierten. Der Sport ist in Orbáns Ungarn Teil einer Marketingkampagne, die das Land als weltoffen und gastfreundlich zeigen soll. Fußball- und Schwimm-EM waren 2021 in der ungarischen Hauptstadt zu Gast.

Orbáns rechtskonservativer Parteifreund und Parlamentarier Máriusz Révészbetonte als Vertreter Ungarns bei der Präsentation der Strecke im November: "Die Grande Partenza ist eine große nationale Imagekampagne, die zur Wiederbelebung des Tourismus beitragen kann." Ähnliche Freude bereitet das Event sicher auch Péter Princzinger, Präsident des ungarischen Radsportverbandes, Vorstand des ungarischen Tourismusverbands – und einst Kabinettsmitarbeiter in Orbáns Fidesz-Regierung.

Aber es gibt auch kritische Stimmen. Die Kosten des Giro-Gastspiels seien fast so hoch wie die Förderung der Radinfrastruktur, die die EU Budapest vor fünf Jahren zugesprochen habe, sagt der Budapester Fahrradaktivist Áron Halász. Viele Projekte seien noch nicht umgesetzt. "Manche Regierungsmitglieder und regierungsnahe Medien greifen die grüne Stadtregierung von Budapest an, gerade weil sie den öffentlichen Raum für Radfahrer umgestalten will." Gleichzeitig investiere die Regierung in den touristischen Radverkehr etwa um den Balaton. Halász: "Auch der Giro kann dafür benutzt werden, der Welt ein anderes Ungarn zu zeigen als jenes, das sie aus den Medien kennt."

Erster Showdown in Viségrad

Es mutet fast als Ironie der Geschichte an, dass die erste Etappe des ungarischen Schaulaufens für die Welt just am Schlossberg von Visegrád endet. Hier waren 1335 die Könige von Ungarn, Böhmen und Polen zum Gipfeltreffen zusammengekommen. 1991 ließen die Spitzen von Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei das Bündnis wiederauferstehen. Die Visegrád-Gruppe gilt heute EU-intern vor allem als Bollwerk des Nationalstaats und als Hardlinerin in Flüchtlingsfragen.

Dass Attila Valter in Visegrád gewinnt, ist unwahrscheinlich. Ein Gesamtsieg ist ebenso wenig zu erwarten, auch wenn Vorjahressieger Egan Bernal nach einem Unfall von der Reha aus zusieht. Favoriten sind der Ecuadorianer Richard Carapaz (Ineos) und der Portugiese João Almeida (UAE). Österreich baut auf AG2R-Kapitän Felix Gall sowie Patrick Gamper (Bora), Tobias Bayer (Alpecin) und Matthias Brändle (Team Israel), der es schon auf das kurze Einzelzeitfahren am Samstag abgesehen hat. Für die anderen wird es wohl erst richtig ernst, wenn der Giro am Montag wieder nach Hause kommt. (Michael Windisch, 5.5.2022)

Etappenplan 105. Giro d'Italia:

6. Mai: 1. Etappe, Budapest – Visegrad (195 km)
7. Mai: 2. Etappe, Budapest – Budapest (9,2 km/Einzelzeitfahren)
8. Mai: 3. Etappe, Kaposvar – Balatonfüred (201 km)
9. Mai: Ruhetag
10. Mai: 4. Etappe, Avola – Ätna (172 km/Bergankunft)
11. Mai: 5. Etappe, Catania – Messina (174 km)
12. Mai: 6. Etappe, Palmi – Scalea (192 km)
13. Mai: 7. Etappe, Diamante – Potenza (196 km)
14. Mai: 8. Etappe, Neapel – Neapel (153 km)
15. Mai: 9. Etappe, Isernia – Blockhaus (191 km/Bergankunft)
16. Mai: Ruhetag
17. Mai: 10. Etappe, Pescara – Jesi (196 km)
18. Mai: 11. Etappe, Santarcangelo di Romagna – Reggio Emilia (203 km)
19. Mai: 12. Etappe, Parma – Genua (204 km)
20. Mai: 13. Eappe, Sanremo – Cuneo (150 km)
21. Mai: 14. Etappe, Santena – Turin (147 km)
22. Mai: 15. Etappe, Rivarolo Canavese – Cogne (177 km/Bergankunft)
23. Mai: Ruhetag
24. Mai: 16. Etappe, Salo – Aprica (202 km)
25. Mai: 17. Etappe, Ponte di Legno – Lavarone (168 km)
26. Mai: 18. Etappe, Borgo Valsugana – Treviso (152 km)
27. Mai: 19. Etappe, Marano Lagunare – Santuario di Castelmonte (178 km/Bergankunft)
28. Mai: 20. Etappe, Belluno – Marmolata/Fedaia-Pass (168 km/Bergankunft)
29. Mai: 21. Etappe, Verona – Verona (17,4 km/Einzelzeitfahren)

Giro-Gesamtsieger und ausgewählte Topplatzierungen von Österreichern seit 2000:

2000: 1. Stefano Garzelli (ITA)
2001: 1. Gilberto Simoni (ITA) – 12. Peter Luttenberger (AUT)
2002: 1. Paolo Savoldelli (ITA) – 7. Georg Totschnig (AUT)
2003: 1. Simoni – 5. Totschnig
2004: 1. Damiano Cunego (ITA)
2005: 1. Savoldelli
2006: 1. Ivan Basso (ITA)
2007: 1. Danilo di Luca (ITA)
2008: 1. Alberto Contador (ESP)
2009: 1. Denis Mentschow (RUS)
2010: 1. Basso
2011: 1. Michele Scarponi (ITA) *
2012: 1. Ryder Hesjedal (CAN)
2013: 1. Vincenzo Nibali (ITA)
2014: 1. Nairo Quintana (COL)
2015: 1. Alberto Contador (ESP)
2016: 1. Nibali 2017: 1. Tom Dumoulin (NED) – 16. Patrick Konrad (AUT) **
2018: 1. Christopher Froome (GBR) – 7. Konrad
2019: 1. Richard Carapaz (ECU)
2020: 1. Tao Geoghegan Hart (GBR) – 8. Konrad – 10. Hermann Pernsteiner (AUT)
2021: 1. Egan Bernal (COL)

* ursprünglicher Sieger Alberto Contador (ESP) wegen Dopings nachträglich disqualifiziert

** bisher einziger Etappensieg eines Österreichers durch Lukas Pöstlberger