Ein Zauberer auf dem Selbsterkenntnistrip: Benedict Cumberbatch muss sich in "Dr. Strange in the Multiverse of Madnesss" auch mit seinen Doppelgängern herumschlagen.

Foto: Disney

In Anlehnung an einen alten James-Bond-Titel könnte man das Expansionsdenken im Hause Marvel und Disney inzwischen auf folgende Losung bringen: Ein Universum ist nicht genug. Denn nach der so einträglichen, hydraköpfigen Verschränkung diverser Superheldenwelten bricht das Comic-Franchise neuerdings auch mit den Regeln von Raum und Zeit.

Marvel Entertainment

Der Kinohit Spider-Man: No Way Home lieferte dafür im letzten Jahr einen ersten Vorgeschmack. Gleich ein Trio von Spider-Männern drang zugleich in die Marvel-Gegenwart vor. Die Parallelwelten zeugen auch davon, dass der Konzern von der eigenen Vorrangstellung eine durchaus klare Vorstellung hat. Selbst im Multiversum entkommt man Marvel nicht, man bringt höchstens etwas durcheinander.

Doch, Entwarnung, ganz so verwickelt wird es in Dr. Strange in the Multiverse of Madness dann glücklicherweise nicht. Es quetscht sich zwar schon in den ersten Minuten ein einäugiger Riesenkrake durch ein Raumloch auf die Straßen von New York und klettert eine Fassade hoch, als wäre er einem Jack-Arnold-Monsterfilm aus den 1950ern entwischt. Doch er macht auch deutlich, dass in diesem Einsatz von Dr. Strange die Lust an der Groteske und dem Spiel mit Schauermomenten überwiegen wird. Richtig ernsthaft waren die Marvel-Filme noch nie, nun streckt der jüngste seine Tentakel in die fantastische Wühlkiste des Genrekinos und lässt dabei vergnügt den Horror heraus.

Erster Marvel-Horror

Verantwortlich dafür ist Sam Raimi, ein mit allen Wassern gewaschener Meister seines Fachs, der die Regie nach dem Abgang von Scott Derrickson übernommen hat. Der 62-Jährige hat seine Ursprünge in Low-Budget-Splatter wie Evil Dead, mit dem ersten, dem Geist des Comics so treffend entsprechenden Spider-Man setzte er Anfang der 2000er Maßstäbe für die Ästhetik der Marvel-Filme.

Im STANDARD-Interview gibt er sich bescheiden als Handwerker für das Franchise aus: "Meine stilistische Ambition war hier ganz auf die Figur von Dr. Strange ausgerichtet. Aber es stimmt schon, es ist Marvels erster Eintrag ins Horrorgenre. Und ein passender, denn Dr. Strange hat es unaufhörlich mit übernatürlichen Kräften zu tun. Und er hat Wanda als Gegenspielerin, die bekanntlich eine Hexe ist."

Faible für Hexen

Ganz so blass ist Raimis Handschrift am Ende jedoch gar nicht. Sein Herz gehört eindeutig Wanda, mit Ingrimm und Trauer von Elizabeth Olsen gespielt, die sich ins glücklichere Leben eines ihrer Alter Egos drängen will. Raimi hatte schon immer eine Schwäche für Hexen (Drag Me to Hell): Sobald sich Wanda wie ein Geist durch die Pforten der Universen drängt und mit Geisteskraft die Gedanken anderer Figuren manipuliert, gewinnt Dr. Strange deutlich an Fahrt.

Visuell haben Raimi und sein exzellentes Art-Department Spektakuläres aufzubieten. Es gibt Spiegelkabinette mit blitzenden Messern und flüssigen Spiegeln, surreale Passagen, in denen die Bilder sich wie in einem Gemälde von Dalí verzerren, sowie fulminanten Zombie-Horror, in dem Raimi seine Freude am Makabren ungehemmt auslebt. Solche stilistischen Extravaganzen säumen einen manchmal etwas stotternden Plot, in dem sich Dr. Strange und Wanda wie Kaninchen durch ein Labyrinth verfolgen: Sie verschwindet in einem Loch, während er an einem anderen Ort aus dem Hut gezaubert wird.

Abtörnend egoistisch

Comic-Connaisseur Raimi gibt zu, dass er den Aufstieg von Dr. Strange, den Benedict Cumberbatch klugerweise nie übermäßig sympathisch spielt, nicht kommen sah: "Seine Popularität überrascht mich bis heute. Er ist eigentlich abtörnend, weil er so selbstverliebt ist und glaubt, dass nur er Probleme lösen kann." Später habe er jedoch erkannt, dass Dr. Stranges Ego seine Schwäche ist. Diese Form der Selbstbezüglichkeit fügt sich gut in ein Geschehen, in dem es dem Zauberer nicht nur um die Balance im Multiversum, sondern auch um sein eigenes seelisches Gleichgewicht geht.

Dr. Strange wird sich im Wechsel von Differenz und Wiederholung hier selbst weniger "strange": Immer wieder muss er sich der enttäuschten Liebe zur ehemaligen Kollegin Dr. Christine Palmer (Rachel McAdams) stellen. Und immer wieder seinem Eifer: In einem blumenumrankten New York hat man ihm sogar eine Statue aufgestellt. Das Doppelgängermotiv führt Raimi dann in einer der besten Szenen des Films zusammen, indem sich zwei Dr. Stranges mit klingenden Noten beschießen (Musik: Danny Elfman).

Solche originellen Regieeinfälle trösten einem in Dr. Strange mehrmals über den Umstand hinweg, dass auch dieser Marvel-Beitrag eher in seinen Soloeinsätzen denn als ein durchkomponiertes Ganzes überzeugt. Wie benennt es Raimi selbst im Gespräch: "Es geht immer um die Integrität des Franchise." In den fesselndsten Momenten trägt er jedoch in ein Universum fort, wo das nicht mehr gilt. (Dominik Kamalzadeh, 5.5.2022)