Seit die Energiepreise stark steigen, tritt Christian Kern wieder regelmäßig medial in Erscheinung. Über Energiepolitik spricht der Ex-Kanzler gerne, sein Unternehmen Blue Minds, das er mit Eveline Steinberger-Kern leitet, investiert ausschließlich in alternative Energien. Bis kurz nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine saß er noch im Aufsichtsrat der russischen Staatsbahn, an Österreichs Abhängigkeit vom russischen Gas trage er aber keine Mitschuld, sagt Kern. Der Ursprung der Problematik liege viel weiter zurück.

Nach Kerns Gespräch mit dem STANDARD wurde bekannt, dass Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) darüber nachdenkt, Extragewinne von Energiekonzernen gesetzlich abzuschöpfen. Nehammers Ankündigung führte zu teils wütenden Reaktionen aus der Wirtschaft. Kern hingegen äußert auf STANDARD-Nachfrage Verständnis für den Schritt des Kanzlers: "Das ist eine schwere Krise, die außerordentliche Maßnahmen verlangt", kommentiert der frühere SPÖ-Chef. "Jetzt geht es nicht um die Schönheit der Marktordung, sondern um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die astronomischen Extragewinne, die die Energiekonzerne der Putin'schen Aggression verdanken, haben ein unhaltbares Ausmaß erreicht." Ansonsten hat Kern nicht viel Lob für die Regierung übrig.

STANDARD: Der Verbund hat seine Preise saftig erhöht, obwohl Wasserkraft nicht teurer wurde. Verbund-Chef Michael Strugl sagt, er könne als Chef eines börsennotierten Unternehmens nicht anders handeln. Was kann man also tun, um die Preise zu senken?

Kern: Ich gebe Michael Strugl recht. Er muss als marktwirtschaftlicher Player agieren, er hat keine andere Wahl. Das ist eine Regulierungsfrage – eine Aufgabe, die die Politik zu bewältigen hat. Das Hauptdilemma ist: Wir haben in den 1990er-Jahren den Energiemarkt liberalisiert und Energie zu einer Ware wie jede andere gemacht. Das war die Fehlentwicklung, über die wir heute reden.

"Wir stehen in Europa vor Herausforderungen, die sind vielleicht noch größer als der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg", sagt Ex-Kanzler und Ex-SPÖ-Chef Kern.
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STANDARD: Ist die Liberalisierung aus Ihrer Sicht falsch gewesen?

Kern: Insofern, als wir keine Instrumente zurückbehalten haben, um den Staat im Krisenfall zu einem ernsthaften Player zu machen. Die Regierung hat ein Vier-Milliarden-Hilfspaket angekündigt. Das entspricht in etwa dem zusätzlichen spekulativen Gewinn, den der Verbund jetzt macht – und da reden wir nur von einem Marktteilnehmer. Es zerfrisst eine Gesellschaft, wenn die einen ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können und ihre Arbeitsplätze verlieren und andere die Dividenden verdreifachen.

STANDARD: Was tun dagegen?

Kern: Italien hat eine 25-prozentige Sondersteuer für Energiekonzerne eingeführt, das ist ein Weg. Ich glaube aber, dass man noch viel tiefer gehen kann. Wasser ist beispielsweise ein öffentliches Gut, man könnte also einen Wasserzins für die Energiegewinnung einheben und die Gewinne abschöpfen.

STANDARD: Bis vor kurzem saßen Sie selbst noch im Aufsichtsrat der russischen Staatsbahn. Der ehemalige E-Control-Chef Walter Boltz sagte zum STANDARD, die Hauptschuld an der Energieabhängigkeit von Russland liege bei den Regierungen der vergangenen zehn Jahre. Also auch bei Ihnen.

Kern: Das ist ein Unsinn. Zunächst einmal greifen zehn Jahre viel zu kurz – unser Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg baute auf Exporten und einer offenen Wirtschaft auf, auf hohen Löhnen und günstiger Energie und darauf, dass die, die miteinander handeln, nicht Krieg führen. Dazu kommt, dass mit der Liberalisierung der Energiemärkte und der Privatisierung der Unternehmen profitorientierte Player am Markt agieren. Die kaufen beim billigsten Anbieter. Die Politik hat sich energiepolitisch selbst entmannt und einer reinen Marktideologie gehuldigt. Und darf ich erinnern? Mein Plan A als Bundeskanzler hatte als erstes Kapitel die Energiewende, da wollten wir 50.000 bis 60.000 Jobs schaffen. Dass die von einem gewissen jungen Mann der ÖVP verhindert worden ist – dafür fühle ich mich nur begrenzt verantwortlich.

STANDARD: Wären Sie noch Kanzler, würden Sie die Energiekonzerne wieder verstaatlichen?

Kern: Nein, aber ich würde die Leine deutlich kürzen. Das ist ein sehr sensibles Regulierungsthema. Da spielen so viele Faktoren auf nationaler und internationaler Ebene zusammen. Und ich glaube nicht, dass unser Staat und unsere Verwaltung darauf vorbereitet sind, mit dieser Krise umzugehen. Wir haben keine Spezialisten mehr in den Ministerien, keine Kompetenz mehr in der Regierung dafür. Wenn du plötzlich entscheiden musst: welches Kraftwerk wird wann wo ein- oder ausgesetzt, wie funktioniert das internationale Energieübertragungsnetz, na dann – viel Spaß. Was die Politik tun kann, ist, Profite aus Kriseneffekten zu besteuern und Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen.

STANDARD: Wann und wie ist diese Kompetenz in Verwaltung und Regierung abhandengekommen?

Kern: Ich glaube, wir hatten die nie wirklich aufgebaut. Wir erleben gerade eine radikale Trendumkehr in der Wirtschaft. In der Corona-Krise haben wir den Staat plötzlich wieder als aktiven Player kennengelernt. Die Bewältigung der Klimakrise kann man nicht dem Markt und privaten Unternehmen überlassen, sie erfordert öffentliche, staatliche, politische Intervention. Die Energiekrise fordert den Staat noch einmal. Ich stelle fest, dass unser Gemeinwesen nicht darauf ausgerichtet ist. Wir haben diese Fähigkeit nicht mehr, Strategien zu entwickeln – geschweige denn, sie umzusetzen. Wir bewegen uns auf einen Tsunami zu und glauben aber, wir können mit einem Schnorchel durchtauchen. Das wird nicht funktionieren.

STANDARD: Apropos Tsunami: Sie haben kürzlich gewarnt, eine weitere enorme Teuerungswelle komme im Sommer auf uns zu – wie kann die Regierung darauf reagieren?

Kern: Im Energiebereich ist es relativ klar. Es gibt diesen Vorschlag aus Spanien, der im Kern bedeutet, dass der Staat das teuerste Kraftwerk vom Markt nimmt und selbst bewirtschaftet – das sind die Gaskraftwerke. Denn an diesen orientiert sich der gesamte Strompreis. Für Deutschland und Österreich heißt das laut meiner Berechnung: Wenn man das tut, halbiert sich der Strompreis sofort von derzeit 200 Euro pro Megawattstunde auf 100, vielleicht sogar noch weniger. Das Schöne daran: Mit einem relativ überschaubaren Betrag an Steuergeld erzielt man einen großen Effekt.

STANDARD: Wie schnell könnte man einen solchen Plan umsetzen?

Kern: Schnell. Wenn die Regierung jetzt ein Gesetz dazu macht, dann muss es nur noch im Parlament beschlossen werden – und dafür gibt es bestimmt eine politische Mehrheit. Das muss man jetzt einfach tun. Stattdessen erleben wir die totale Paralyse. Die Energie ist nur eine Komponente, sehen Sie sich die Landwirtschaft an: Weizen, Raps, Dünger – Preiserhöhungen zwischen 200 und 400 Prozent. Das kommt irgendwann bei den Konsumentinnen und Konsumenten an. Und wir müssen auf die Peripherie Europas achten. Wenn es da zu Hungersnöten kommt, setzen große Migrationsbewegungen ein. Wir stehen in Europa vor Herausforderungen, die sind vielleicht noch größer als der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir stehen nicht vor einer Zeitenwende, das ist ein Zeitenbruch.

STANDARD: Und was machen wir mit dieser furchterregenden Erkenntnis?

Kern: Die Politik steht vor einer großen Frage: Sie wird klären müssen, wie wir die Lasten, die da auf uns zukommen, künftig verteilen. Wer wird das schultern müssen? Wessen Schultern sind stark genug?

Ob er irgendwann in die Politik zurückkehren möchte? "Ich bin gut ausgelastet. Ich hab einen Hund, ich mache sechsmal die Woche Sport. Es ist ein gutes Leben", antwortet Christian Kern.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Mit der Einführung einer Vermögenssteuer wird es wohl nicht getan sein.

Kern: Nein, wir brauchen einen großen Wurf. Und man wird den Menschen klarmachen müssen: Es wird schwieriger in den kommenden Jahren. Und wann beginnen wir, unser Staatsgefüge darauf auszurichten? Etwa auf den Umbau der Mobilität, die Reform des Bildungssektors, des Gesundheitssystems. Hier gibt es überall Fragestellungen, die wir dringend beantworten müssen. Das sehe ich derzeit noch nicht.

STANDARD: Diese Ehrlichkeit scheint in der SPÖ aber auch noch nicht angekommen zu sein. Bei ihrer Rede zum 1. Mai hat Parteichefin Pamela Rendi-Wagner höhere Pensionen und eine Senkung der Steuern gefordert.

Kern: Was wollen Sie hören von mir? Dass ich widerspreche? Die soziale Frage ist relevant. Aber wir sind alle wohlstandsverwöhnt. Wir sind die Generation der goldenen Jahre. Jetzt stehen wir vor der Frage, wie wir den Wohlstand langfristig sichern können, und der Politik fehlen die Antworten.

STANDARD: Wie viele magere Jahre stehen uns bevor?

Kern: Russland zwingt uns in eine Kriegswirtschaft. Ökonomisch klein beigeben ist keine Option. Die Transformation dauert sicher rund zehn Jahre. Unser Lebensstandard wird kurzfristig eher sinken. Das wird nicht nur die Sozialtransferempfänger betreffen, die Mittelschicht wird am stärksten betroffen sein. Wenn wir die derzeitigen Erpressbarkeiten auf dem Energiesektor minimieren, wird das teurer. Die Kapitalströme werden sich in Länder mit niedrigeren Energiekosten verschieben, das betrifft uns dann alle, bis zur kleinsten Pensionistin. Wir stehen mitten in einem globalen Wirtschaftskrieg. Europa muss aufpassen, dass es nicht zwischen den USA und China zerrieben wird.

STANDARD: Noch ein anderes Thema: In den Medien waren Sie zuletzt mit einer – wenn sie wahr ist – haarsträubenden Geschichte aus dem Jahr 2016. Sie haben "Zackzack" erzählt, der damalige Innenminister Wolfgang Sobotka habe Ihre Pläne zur Umverteilung von Flüchtlingen durch eine Intervention bei Ungarns Premier Viktor Orbán torpediert. Warum erzählen Sie das erst jetzt?

Kern: Der Artikel war das Ergebnis eines längeren Gesprächs, in dem ich die damalige Zeit reflektiert habe. Die Regierungszusammenarbeit mit der ÖVP war damals vom ersten Tag an geprägt von Intrigen. Diese Geschichte mit Orbán ist nur ein einzelnes Stück dessen, was sich Sebastian Kurz und auch Wolfgang Sobotka permanent erlaubt haben. Es wurde die flächendeckende Kinderbetreuung behindert, es wurde die Abschaffung der kalten Progression vereitelt. Die haben verhindert, dass wir den Christian Konrad zum Integrationsbeauftragten machen. Da waren Reinhold Mitterlehner und ich uns eigentlich schon einig gewesen. Es war eine permanente Sabotage. Aber hätte ich das damals öffentlich gemacht, hätten alle gesagt: Der Bundeskanzler hat seine Regierung nicht im Griff.

STANDARD: Sie hätten dafür sorgen können, dass Sobotka aus der Regierung entlassen wird, wenn Sie tatsächlich belegen konnten, dass er als Minister die Koalition sabotiert.

Kern: Der hat sich doch nur in eine Phalanx eingefügt. Ich habe Reinhold Mitterlehner mehrfach gebeten, dass man den Innenminister tauschen möge. Der hat aber in seiner Partei nicht die Handlungsfähigkeit gehabt, weil die niederösterreichische ÖVP hinter Sobotka stand. Neuwahlen waren keine Option. Damals hatten wir gerade die Klebstoffaffäre rund um den Bundespräsidenten. Ich hätte doch nicht die Koalition aufkündigen können in einer Zeit, als Österreich nicht einmal einen Bundespräsidenten hatte.

STANDARD: Und die bessere Alternative war eine – so wie Sie das beschreiben – handlungsunfähige Regierung?

Kern: Na ja, handlungsunfähig waren wir nicht, es war einfach mühsam. Schauen Sie sich die Liste an Gesetzen an, die wir damals beschlossen haben. Aber die Lektion, die man der SPÖ heute mitgeben kann – und eigentlich allen progressiven Kräften: Man muss an einer gesellschaftlichen Mehrheit jenseits von Schwarz-Blau arbeiten. Sobald die Rechten in diesem Land eine gemeinsame Mehrheit haben, wird es sehr schwierig, konstruktive Regierungspolitik zu machen, weil man mangels Alternativen erpressbar wird. Das war selbst nach dem Wahlsieg die Lektion des Kabinetts von Alfred Gusenbauer.

STANDARD: Denken Sie, die aktuelle SPÖ ist dazu in der Lage?

Kern: Wir reden derzeit in ganz Europa von einer Renaissance der Sozialdemokraten. Das stellt sich aber sehr differenziert dar. Zum Beispiel die bemerkenswerte finnische Kollegin Sanna Marin, die hat lediglich 17,7 Prozent gehabt bei der vergangenen Wahl. Mette Frederiksen aus Dänemark, die als Role-Model gilt für rechte Sozialdemokratie – sie liegt in Umfragen bei 24 Prozent. Die schwedischen Sozialdemokraten liegen bei etwa 25 Prozent. Der Spanier Pedro Sánchez? Ähnliche Dimension. Die Franzosen geben sich gerade selbst auf. Der Einzige, der darüber hinausragt, ist António Costa in Portugal. Die Renaissance der Sozialdemokratie und ihrer politischen Prägekraft ist kein Selbstläufer, sondern oft das Ergebnis der völligen Erosion von Mitte-rechts.

Kern: "Sobald die Rechten in diesem Land eine gemeinsame Mehrheit haben, wird es sehr schwierig, konstruktive Regierungspolitik zu machen, weil man mangels Alternativen erpressbar wird."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Ist das aus Ihrer Sicht auch der Grund für das Erstarken der SPÖ hierzulande?

Kern: So ist es auch hierzulande. Die SPÖ hat eine hervorragende Chance, die nächste Regierung zu stellen, und genug Zeit, sich gut darauf vorzubereiten. Sozialdemokratie war immer dann stark, wenn soziale Gerechtigkeit und Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreich vereint wurden.

STANDARD: Sie sind derzeit sehr aktiv und medial präsent. Juckt es Sie denn, in die Politik zurückzukehren?

Kern: Wir haben in Österreich das Problem, dass oft nicht verstanden wird, dass man ein inhaltliches Anliegen haben kann ohne persönliche Interessen.

STANDARD: Man kann trotzdem nachfragen. Also Sie haben keine politischen Ambitionen mehr?

Kern: Ich bin gut ausgelastet. Ich hab einen Hund, ich mache sechsmal die Woche Sport. Es ist ein gutes Leben. (Petra Stuiber, Katharina Mittelstaedt, 5.5.2022)