Wie weit soll die Bewaffnung der Ukraine gehen? "Schweres Gerät" oder: zerstörter Panzer in einem Vorort von Kiew, aufgenommen im April 2022.

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Die Tinte des von Alice Schwarzer und Peter Weibel initiierten "Offenen Briefs an Olaf Scholz" – ein pazifistischer Aufruf, an die Ukraine keine Waffen zu liefern – war gerade trocken, da tauchte schon ein zweiter, nicht weniger dringlicher auf. In ihrem "Gegenbrief" in der Zeit "ermutigen" Autorinnen und Autoren wie Herta Müller, Eva Menasse und Daniel Kehlmann den deutschen Bundeskanzler ausdrücklich, der Entschließung des Bundestages zu folgen. Deutschland solle die Ukraine "kontinuierlich" mit Waffen beliefern, um die "Kräfteverhältnisse zugunsten der Ukraine zu wenden".

Im Folgenden soll geprüft werden, welchen Traditionen des Denkens und Argumentierens die beiden Schreiben jeweils verpflichtet sind. Was noch schwerer wiegt: Wollen die beiden hochrangig besetzten und hochgradig erregten Autorinnenkollektive überhaupt miteinander kommunizieren?

Die Universalisten

Beiden Briefen liegen ethische Abwägungen zugrunde. Angesichts der quälenden Bilder vom Ukraine-Krieg erstellen die Proponenten des ersten, pazifistischen Briefes eine Art Pflichtenheft. Sie verweisen auf Normen, an denen jedes verantwortliche politische Handeln sich messen lassen muss. Russland als Aggressor breche die "Grundnorm des Völkerrechts". Demgegenüber gebiete es die prinzipielle politisch-moralische Pflicht durchaus, Widerstand zu leisten. Doch Alice Schwarzer und Co erweitern den Pflichtenkatalog um weitere Bestimmungen. Jedes Hochlizitieren, jede Inkaufnahme atomarer Eskalation wird von den Friedensbewegten mit Verbot belegt, und zwar "kategorisch".

Dazu kommt das Ausmaß des menschlichen Leides. Der Widerstandswille, und sei er noch so berechtigt, wiege weniger schwer als das Elend der Betroffenen, das durch die Anwendung immer neu zugelieferter Waffen unablässig steige. Sagen Schwarzer und ihre Verbündeten.

Genau dieser Punkt einer allgemeinen ("universalen") Verantwortlichkeit, die den Aggressor Putin als rationales Gegenüber in jede Kalkulation einbezieht, bringt die Kritiker des Emma-Briefes zur Weißglut. Die pazifistischen Briefschreiber selbst sind echte Kantianer. Sie gestehen sogar einem neoimperialistischen Kriegsherrn wie Putin die prinzipielle Möglichkeit zu, dass er imstande sei, sittlich verantwortlich zu handeln. Zugrunde liegt die Annahme, er werde einzig und allein aus Vernunftgründen an den Verhandlungstisch zurückkehren.

Die Pragmatiker

Die Proponenten des "Gegenbriefs" sind, dem Stil wie der Dringlichkeit nach, mit der sie auf die ebenso rasche wie umfassende Bewaffnung der Ukraine drängen, reine Totalpragmatiker. Hier gilt das unausgesprochene Prinzip: Nur wer rasch hilft, hilft doppelt. Sehr wohl führen auch Eva Menasse, Daniel Kehlmann und Co die "Anerkennung der Menschenrechte als Grundlage für friedliche Koexistenz" in Europa ins Treffen.

Doch "die Drohung mit dem Atomkrieg" übersteigt für die Unterzeichner des Gegenbriefs ausdrücklich den Horizont abstrakten Schreckens. Dieser bestünde in der Auslöschung des Menschengeschlechts; die Androhung des Atomtodes markiert nicht erst seit Günther Anders' Zeiten das Erreichen eines gattungspolitischen Nullpunktes.

Die Gefahr eines Nuklearkrieges sei eben gerade nicht durch "Konzessionen an den Kreml" zu bannen: Das stellen Kehlmann, Maxim Biller, Armin Nassehi und die anderen Unterzeichner des zweiten Briefes fest. Im Gegenteil, Putin würde dadurch zu weiteren Aggressionen förmlich ermutigt. In der Argumentation der Gegenbriefschreiber schwingt hörbar die Erfahrung des Kalten Krieges nach. Auch damals wurde vonseiten der Nordatlantiker mit dem Pfund der "glaubwürdigen Abschreckung" gewuchert. Der Kollaps der Sowjetunion und der Zerfall des Warschauer Paktes standen bekanntlich am Ende dieser Entwicklung, die ihrerseits vorschnell als "Ende der Geschichte" identifiziert wurde.

Deutsche Selbstauskünfte

So wächst sich "die Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine" eben doch zur Aufgabe von höchster Allgemeinheit aus: Auf dem Spiel steht gerade das "deutsche Nie wieder". Die Gegenbriefschreiber und -unterzeichner leiten aus der fatalen deutschen Geschichte die Verpflichtung zur Notwehr ab. Die eigene Historie gebiete "alle Anstrengungen, erneute Vertreibungs- und Vernichtungskriege zu verhindern. Das gilt erst recht gegenüber einem Land, in dem Wehrmacht und SS mit aller Brutalität gewütet haben."

Es scheint, als ob diese doppelte Verpflichtung die besondere Vehemenz der Debatte gerade in unserem Nachbarland begründet. Für die Proponenten des ersten Briefes sind die Erfahrungen von Krieg und nazideutscher Vernichtungspolitik ausschlaggebend dafür, der Bundesrepublik eine besondere Zurückhaltung aufzuerlegen. Je mehr (schwere) Waffen, desto mehr ziviles ukrainisches Leid. Daher gelte es, jeden Beitrag zu einer Erstreckung des Krieges zu unterlassen und der Entstehung "unerträglicher Missverhältnisse" vorzubeugen.

Die Parteigängerinnen des Gegenbriefs ziehen aus der nämlichen Annahme den exakt entgegengesetzten Schluss: Normativ ist hier einzig und allein die Verpflichtung zum Handeln. Wer jetzt zuschaue, die Ukraine allein bluten lasse, vergehe sich an der sittlichen Idee eines "freien Europas". Wer das "Völkerrecht mit Füßen" trete, dürfe nicht "als Sieger vom Feld gehen". Zwischen beiden Auffassungen gähnt zum jetzigen Zeitpunkt ein Abgrund. (Ronald Pohl, 6.5.2022)