Andrea Roedig, geb. in Düsseldorf, lebt als freie Publizistin in Wien und ist Mitherausgeberin von "Wespennest".

Foto: Markus Rössl

Andrea Roedig hat immer wieder Texte für das Album geschrieben, oft war darin das Muttersein schon Thema. In ihrem autobiografischen Roman Man kann Müttern nicht trauen hat sie nun thematisiert, dass ihre Mutter die Familie verlassen hat, als Andrea zwölf war.

In einem Kaffeehaus im Augarten sitzen wir auf der Terrasse in der Sonne, die sich im Frühling noch nicht viel hat blicken lassen. "Mir ist ständig kalt", sagt Roedig, aber es braucht nicht lange, und wir sind aufgewärmt. Los geht’s: Reden über das Mutter-Buch. Der Anlass liegt nahe.

STANDARD: Welche Bedeutung hat der Muttertag für Sie?

Andrea Roedig: Ich erinnere mich, dass meine Mutter sich bei meinem Bruder und mir, als wir schon älter waren, beschwert hat, dass zum Muttertag keine Karte kommt. Ich fand das empörend: Eine Mutter, die eine Zeit lang verschwunden war und die wir nur im Abstand von fünf bis sieben Jahren gesehen haben, wünscht sich Post zum Muttertag! Aber nicht nur sie war eine schlechte Mutter, wir waren auch schlechte Kinder. Beim "Muttertag" verspüre ich einen Unwillen, ich halte diese Einrichtung für hochideologisch. Aber publizistisch ist sie praktisch, da lassen sich Mutter-Bücher gut verkaufen (lacht).

STANDARD: Sie sagen, "Man kann Müttern nicht trauen" ist keine Abrechnung mit der Mutter, was ist es dann?

Roedig: Es ist eine Auseinandersetzung, der Versuch, diese für mich fremde Frau zu verstehen. Gleichzeitig ist es auch eine Umarmung und ein Loslassen. Es war für mich eine Möglichkeit, mich intensiv mit meiner Mutter zu beschäftigen, mit ihr in eine Art Dialog zu treten, wenn auch in der Form eines Monologes. Ich weiß nicht, ob ich immer gerecht war, aber ich habe versucht, in jeder Hinsicht ehrlich zu sein.

STANDARD: Sie haben dieses Buch aber erst schreiben können, nachdem Ihre Mutter gestorben war?

Roedig: In gewisser Weise, ja. Der Entstehungsprozess war komplex. Schon als meine Mutter älter wurde, wollte ich Interviews mit ihr führen, um ihr ungewöhnliches Leben aufzuschreiben. Denn irgendwie steckt ja auch ein Romanstoff da drin. Vielleicht auch ein Film. Aber meine Mutter hat sich verweigert. Ich habe dann Interviews mit anderen Müttern geführt, die ihre Kinder verlassen haben. Aber ich fand keinen rechten Zugang. Okay, dachte ich, dann schreibe ich eben die Geschichte aus meiner Perspektive. Kurzum: Ich wollte zuerst sie befragen, dann andere Mütter – jetzt befrage ich mich.

STANDARD: Der Buchtitel Man kann Müttern nicht trauen behauptet etwas. Ist es so, kann man Müttern nicht trauen?

Roedig: Ja, ich glaube schon. Und Kindern übrigens auch nicht. Jede Liebe ist ambivalent. Jedes Kind bräuchte zuerst ein Gefühl von unbegrenztem Vertrauen, aber das währt ja nicht lange. Es gibt immer etwas an der Bezugsperson, das sich entziehen kann oder auch zu viel ist. Ich hatte nie das Gefühl, dieser Mutterfigur voll und ganz vertrauen zu können; und ich hatte später immer auch Angst davor, verspottet zu werden für meine komische, naive Suche nach der guten Mutter. Wir brauchen die gute Mutter, aber nichts ist eben nur gut.

STANDARD: Als Feministin gestehen Sie einer Frau auch zu, Entscheidungen gegen die Familie zu treffen?

Roedig: Ja, ich würde sagen: Mütter dürfen gehen, auch wenn das für Kinder dramatisch ist. Heute gibt es unzählige gut funktionierende Patchworkfamilien. Viele Mütter verlassen die Familie, aber die meisten bleiben in Kontakt mit den Kindern. Feministisch gesprochen: Es gibt die Mutterrolle und die Frau als reale Person. Und die Frau muss gehen dürfen. Es sollten auch andere Menschen da sein, um das Kind aufzufangen, Väter zum Beispiel.

STANDARD: Diese schwierigen Umstände Ihrer Kindheit haben aus Ihnen eine Autorin gemacht. Als Jugendliche haben Sie geschrieben: "Schweigen ist der größte Feind des Menschen." Sehen Sie das noch immer so?

Roedig: Es gab in unserer Familie tatsächlich ein Schweigegebot, und das gilt für viele Familien: Wir durften nicht verraten, wie es bei uns zu Hause zugeht. Das Bedürfnis zu reden, etwas rauszulassen, gerade in der schlimmen Zeit, war sehr groß. Also habe ich zu schreiben begonnen. Das Schweigegebot hat mich sozusagen zur Autorin gemacht, genauso wie der Konkurs unseres Geschäftes. Mein Großvater hat einmal zu mir gesagt, "was du gelernt hast, kann dir keiner nehmen". Das war für mich ein klarer Bildungsauftrag. Bildung macht autonom. Meiner Mutter stand das nicht zur Verfügung.

STANDARD: Ihr Buch ist eine drei Generationen umfassende Erzählung. War die Generation Ihrer Mutter nicht die erste, die Emanzipation zumindest versucht hat?

Roedig: Nein, denn es gab ja schon den frühen Aufbruch der ersten Frauenbewegung, aber der wurde durch den Nationalsozialismus wieder zerstört. Meine Mutter, Jahrgang 1938, wollte zwar alles anders machen als ihre eigene Mutter, vor allem wollte sie "modern" sein, ist aber nie weggekommen aus der Abhängigkeit von Männern. Wäre sie zehn Jahre jünger gewesen, wäre sie vielleicht Teil der 68er-Bewegung geworden. So aber kam sie mit dickem Gepäck aus einer Kriegskindheit heraus, entfaltete sich in den Wirtschaftswunderjahren – aber das blieb eine rein konsumorientierte Entfaltung. Meine Großmutter agierte, kriegsbedingt, immer in einer Tauschlogik. Es gab bei ihr nichts ohne Gegenleistung. Aber sie hat es immerhin geschafft, selbstständig zu leben. Ihr Mann war im Krieg gefallen, und sie hat nie wieder geheiratet. Hart gesprochen hat sie aber versucht, ihre Tochter an den Meistbietenden zu verschachern. Wie bringen sich Frauen durch? Meine Großmutter mit Tausch, meine Mutter mit Männern und ich mich mit Bildung.

STANDARD: Sie nennen die Mutter im Buch Lilo. Haben Sie sie so genannt?

Roedig: Nein, ich habe sie immer mit "Mami" angesprochen. Meine Mutter Lilo zu nennen hat mir Distanz verschafft, es hat bedeutet, sie zu objektivieren. – Ich versuche im Buch auch zu beschreiben, wie sich mein Gefühl veränderte, nachdem meine Mutter verschwunden war: Ein anfangs starkes Schmerz- und Schuldgefühl – denn ich war auch erleichtert gewesen, dass sie weg war – verfestigte sich später zu dem eindeutigen Narrativ, dass meine Mutter mich verlassen hat. Sie hatte umgekehrt das Gefühl, ich hätte mich gegen sie entschieden. Meine Mutter hat nie verstanden, dass man Kinder nicht vor unlösbare Entscheidungen stellen kann. "Entweder du entscheidest dich für mich oder für den Papi." Dazwischen gab es nichts.

STANDARD: Nach heutiger Diktion war Ihre Mutter eine toxische Mutter, aber der Vater ja auch keine weniger toxische Figur. Warum sind Sie mit der Mutter härter ins Gericht gegangen?

Roedig: Mein Vater war mir in gewisser Weise viel näher, da tut manches noch mehr weh. Er war ein unverantwortlicher Typ, ein Hallodri, aber er hat mir trotz allem immer das Gefühl gegeben: Du bist okay. Er hat genervt, war verletzend, aber er war nie abwesend wie meine Mutter. Über ihn zu erzählen wäre ein anderes Buch geworden, aber ich habe nicht vor, auch noch ein Vater-Buch zu schreiben (lacht).

STANDARD: Da gäbe es erfolgreiche Vorlagen: Annie Ernaux, Édouard Louis, Monika Helfer etc. Gab es eine Beschäftigung mit Mütter-Literatur?

Roedig: Ich habe mich sehr stark mit autobiografischem Schreiben beschäftigt, vor allem auch mit der Frage: Wie erforsche ich eine Person, über die ich nicht viel weiß? Da fand ich Natascha Wodins Sie kam aus Mariupol überaus hilfreich. Der größte Held für mich ist immer noch Peter Handke mit Wunschloses Unglück, aber ich habe auch sonst viel gelesen, Jeannette Walls The Glass Castle (Schloss aus Glas), Louis Begleys Lügen in Zeiten des Krieges, Peter Wawerzineks Rabenliebe, Bodo Kirchhoffs Dämmer und Aufruhr et cetera, et ectera. Es gibt ja unendlich viele Weisen autofiktionalen Schreibens.

STANDARD: War Ihr Bruder ein wichtiger Erstleser des Buchs?

Roedig: Ja, absolut, der musste allem zustimmen und steht voll hinter dem Buch. Ich möchte diese Kindheitsgeschichte, die uns zusammengeschweißt hat, nicht allein erlebt haben. Über das Reden mit ihm wurde vieles klarer.

STANDARD: Was wäre ein Tipp von Ihnen für Kinder von getrennten Eltern – zum Muttertag?

Roedig: Am ehesten, jemanden Dritten zu suchen, eine Person, der man vertraut, aber die außerhalb der Kernfamilie steht. Das können Großeltern sein, Tanten, Lehrer:innen. Getrennte Eltern sind zwei aus einandergebrochene Hälften, und zwischen ihnen herrscht oft ein unausgegorenes Gleichgewicht.

STANDARD: Wenn Sie sich heute an Ihre Mutter erinnern, welches Bild taucht auf?

Roedig: Das Bild der sehr alten Frau, mit der ich den Versuch unternehmen könnte, sie noch einmal zu umarmen. Aber das ist ein gefährlicher Wunsch: Bitte hab mich doch einfach lieb, Mami! Denn einfaches Liebhaben geht vielleicht nicht. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 8.5.2022)