Przemyśl, Anfang April. Rund zwölf Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, ist die Stadt im Südosten Polens zu einem bedeutsamen Nebenschauplatz des Krieges geworden. Vielen Vertriebenen ist sie ein erstes Ziel, hier sucht man Schutz oder reist weiter, nach Warschau, in die baltischen Staaten, den Westen.

"Man hält den Alltag so gut als möglich aufrecht, geht der Arbeit nach und versucht zugleich, den Krieg immer mitzudenken."
Foto: Nikodem Szczyglowski

Ich bin mit dem Zug eingetroffen, der frühmorgens von Graz startet, eine tägliche Verbindung über Wien, Brünn und Krakau bis hierher. Nikodem Szczygłowski, Journalist und Übersetzer, erwartet mich auf dem Bahnsteig. Seit Kriegsbeginn berichtet er aus dem Grenzgebiet. Im Austausch mit ihm entstand die Idee, die Situation in Przemyśl zu recherchieren; kurz vor meiner Abfahrt schrieb er mir, dass sich die Möglichkeit eines Aufenthalts in der Ukraine ergeben habe.

In einem Lokal am Hauptplatz, inmitten der trinkenden Stadtjugend, präzisiert sich das Vorhaben: Drei von schwedischen Krankenhäusern gespendete Ambulanzwagen werden am folgenden Tag unter der Federführung der NGO Blue Yellow in das achtzig Kilometer entfernte Lwiw transportiert, dieser Hilfsaktion kann ich mich anschließen. Mir gegenüber sitzt der Litauer Ghendris. Glattrasiert, Mitte vierzig, ein Rettungssanitär. Er hat die Einsatzautos aufgerüstet, einzig Sauerstofftanks fehlen, ansonsten seien sie bereit für die Front.

Eines wird in Lwiw bleiben, die zwei anderen sollen nach Mariupol oder Charkiw, dafür hat sich Ghendris als Fahrer gemeldet. Wie erstaunlich es sei, sagt er, dass laufend Unterstützung eintreffe, unkompliziert, reibungslos, ein Strom an Spenden, der etliche Überraschungen bereithalte: Zuletzt habe er künstliche Blutgefäße verladen, wertvolle, hochpreisige Wunderwerke, die die Amputation schwerverletzter Gliedmaßen verhindern.

Doch nicht nur medizinische Gerätschaften machen samt militärischer Ausrüstung wie Schutzwesten oder Helmen in Przemyśl Zwischenstation, auch Wissen meistert von hier den Übertritt. Beispielsweise sei er Freiwilligen begegnet, die die Hunde des ukrainischen Grenzschutzes darauf trainieren möchten, nicht wie bisher Drogen, sondern Sprengstoff zu erschnüffeln; das werde nach Kriegsende für die Minenräumung wichtig.

Moment für Moment

Nikodem hat kaum Gelegenheit, sich am Gespräch zu beteiligen. Anrufe erreichen ihn, er eilt hinaus zum Telefonieren. Die Ambulanzwagen besitzen keine Zulassung, keine Nummerntafel, eine Begleitung durch Mitarbeiter der litauischen Botschaft könnte helfen, den Grenzposten zu passieren.

Ghendris kommentiert die Unsicherheiten als Merkmal eines jeden Krieges. Man komme am Einsatzort an und entscheide Moment für Moment, nichts sei garantiert, doch alles fragwürdig. Binsen, natürlich, die in diesem Kontext aber zwingend wirken. Ob das sein erster Kriegseinsatz sei, will ich wissen, und mit einem Lächeln klärt er mich auf, dass er 2003 in Afghanistan gedient habe, danach unter anderem 2005 im Irak, als Soldat der litauischen Armee.

Im Kampf habe er eine unvergleichliche Konzentration erlebt. Man suche Deckung, bewege sich, schieße, suche die nächste Deckung. Kein Gedanke mehr, bloßes Agieren, eine intuitive, extrem fokussierte Wahrnehmung; manche würden süchtig nach diesem Zustand. Er selbst rückte zum Leutnant auf, ein Rang, der für seinen Geschmack mit zu viel Bürokratie einherging, weshalb er die Armee verließ und auf Rettungssanitäter umschulte – eine andere Art der "combat zone", die sofortiges Handeln nötig mache.

Ehrliche Überzeugung

Als die russische Invasion begann, ließ es ihm keine Ruhe, er empfand es als Pflicht, das eigene Können anzubieten. Seine zwei Kinder im Teenageralter und auch der Arbeitgeber haben Verständnis für die Entscheidung, sich drei Wochen Urlaub zu nehmen und in den Krieg zu ziehen.

Im Bewusstsein, für die richtige Sache einzustehen, liegt eine eigentümliche Kraft. Ghendris erzählt nicht als Einziger davon: Die Russen handeln auf Basis von Lügen – dass im Donbass an der russischsprachigen Bevölkerung ein Genozid verübt werde, dass in Kiew ein Naziregime herrsche, man kennt die Rechtfertigungen – doch jene, die dagegen ankämpfen, die Ukrainer und Ukrainerinnen sowie die internationale Gemeinschaft der Freiwilligen, tun dies aus einem Sinn gerechter Notwendigkeit; eine solche tiefgreifende, ehrliche Überzeugung, sagt Ghendris, werde der Ukraine zum Sieg verhelfen.

Checkpoints

Der nächste Tag, ein Fabriksgelände am Rand der Stadt. Die drei Krankenwagen sind vollgeräumt mit Natriumchlorid, Verbänden, Müsliriegeln. Die wichtigste Lieferung umfasst verschiedenste Antibiotika, denn der Krieg, so Ghendris, ist das sprichwörtliche schmutzige Geschäft: Schnell entzünden sich Wunden aufgrund des dreckigen Gewands und der Erde, in der man kauert; stirbt man nicht an der Kugel, so wahrscheinlich an der folgenden Sepsis.

"Für zwei Nächte komme ich bei einem Freund von Nikodem unter. Am Wohnzimmerfenster lehnt ein Gewehr, auf dem Couchtisch liegen Patronen verstreut."
Foto: Nikodem Szczyglowski

Seit gestern fällt Schnee. Durch den grauen Himmel fliegen Störche. Einen Trolley hinter sich herziehend kommt eine junge Frau zwischen den Lagerhallen heran. Katharina, eine tschechische Journalistin. Über Nacht ist sie mit dem Flixbus aus Prag angereist, um sich uns anzuschließen. Wir warten in der Kälte, bis die nötigen Papiere fertig sind. Die Unsicherheit bleibt, ob man aufgrund fehlerhafter Dokumente von der Grenze nicht doch wieder zurückgeschickt wird.

Kurz vor 16 Uhr aber ist es so weit, der Konvoi startet. Polizei übernimmt mit Blaulicht den Anfang, zwischen zwei Vans der litauischen Botschaft die drei Ambulanzwagen. An der Grenze wird mein Fahrer – ein Botschaftsangestellter, der aufgrund seines diplomatischen Status nicht einreisen darf – von Roman abgelöst. Der große, massige Ukrainer, ein lokaler Mitarbeiter von Blue Yellow, schlendert durch das Niemandsland heran und setzt sich hinter das Steuer.

Die Dokumente werden abgenickt, die Pässe abgestempelt, der litauische Militärattaché, der den Transfer begleitet, sorgt für zusätzlichen Nachdruck. Hinter der Grenze ist der Krieg sehr greifbar. An der Straße Checkpoints, vermummte Soldaten neben aufgeschichteten Sandsäcken.

Widerstandslieder im Radio

Roman stellt Radio Bayraktar ein. Der nach den türkischen Drohnen benannte Sender spielt Widerstandslieder, in den letzten Wochen entstanden. Aus Bob Marleys No Woman, No Cry wurde No Putin, No Cry (Ukranian Warriors Unite).

Allgegenwärtig, und auch in den Lokalen von Lwiw oft zu hören, ist ein Song, der den gleichen Namen wie der Radiosender trägt: Bayraktar von Taras Borowok besingt die verheerende Wirkung der Kampfdrohne auf die feindlichen Einheiten. Während er das Blaulicht einschaltet, um zwischen Checkpoints rasch hindurchzukommen, sagt Roman, dass sie unbedingt schwere Waffen von der Nato benötigen. Bereits die Bayraktars hätten ausgereicht, Russlands Propaganda einer unbesiegbaren Armee als Lüge zu entlarven. Hätte man mehr Kampfjets und Panzer, dann wäre der Krieg bald entschieden.

Die Straße säumen große Schilder, auf der roten Fläche steht in weißer Schrift sinngemäß: Wir leben auf dieser Erde, ihr Russen liegt bald darunter. Weitere Checkpoints und Panzersperren, Sandsackwälle, dann die Ausläufer Lwiws. Mit Blaulicht und Sirenen steuern die Ambulanzwagen auf das Krankenhaus zu. Wir parken vor dem Eingang, und noch ist die Übergabe nicht abgeschlossen, da nimmt Katharina ihren Trolley und verabschiedet sich. Sie wird versuchen, weiter nach Osten zu gelangen, in Richtung der Front, um von dort zu berichten.

Prohibition

Für zwei Nächte komme ich bei einem Freund von Nikodem unter. Am Wohnzimmerfenster lehnt ein Gewehr, mit Kriegsbeginn hat er es sich zugelegt, auf dem Regal und dem Couchtisch liegen Patronen verstreut. Als Dank für die Gastfreundschaft haben wir zwei Flaschen Whisky mitgebracht. Bisher wurde Alkohol aus der Ukraine nach Polen geschmuggelt, aufgrund der niedrigen Besteuerung ein einträgliches Geschäft, jetzt hat sich die Richtung geändert.

Gestern erst wurde die Prohibition gelockert, von mittags bis acht am Abend gibt es wieder Bier und Wein zu kaufen, harter Alkohol ist offiziell weiterhin nicht zu haben. Kurz vor der Ausgangssperre um 22 Uhr setzt Raketenalarm ein, der erste, den ich während meines Aufenthalts erlebe. Gregory Semenchuck, ein befreundeter Dichter und Musiker aus Lwiw, schreibt mir via Messenger: The Siren is welcoming you :))

Der nächste Vormittag, am Marktplatz. Im Bierlokal Prawda befindet sich das Media Center, die Zentrale der internationalen Berichterstattung. Hier werden Informationen geteilt und neueste Entwicklungen besprochen. Momentan gibt es von Lwiw täglich drei Zugverbindungen nach Kiew, viele Geflohene wollen die Gelegenheit nützen, dass der Kampf um die Hauptstadt von den Russen offenbar aufgegeben wurde.

Frauen kehren zurück, auf der Suche nach ihren Partnern, Vätern oder Brüdern, oder man will nach dem eigenen Haus, der Wohnung sehen, sich beispielsweise persönliche Dokumente und eilig versteckte Wertgegenstände holen oder Türen und Fenster verbarrikadieren, wer weiß, was die nächsten Wochen bringen.

Flüchtlingsschicksale

Im obersten Stockwerk wird die erste Pressekonferenz dieses Tages vorbereitet. Oleksandr Kubrakow, Infrastrukturminister, soll heute über die Bedeutung der ukrainischen Eisenbahn als Mittel zum Sieg sprechen. Brigadeoffiziere wechseln sich mit der Sängerin Khrystyna Solowiy ab. Die berühmte Künstlerin, so der Ankündigungstext, wird von ihrer persönlichen Unterstützung der ukrainischen Armee erzählen.

Die Presseabteilung der Stadtregierung versucht mit solchen Vorträgen, das Interesse der Medienvertreter aufrechtzuerhalten. Rund 1500 sind bisher akkreditiert worden, gestern traf mit einem Reporter aus Simbabwe der erste aus Afrika ein. Die Ukraine muss in der internationalen Berichterstattung verbleiben, sagt man mir.

Prominente wie Solowiy liefern zusätzliche Inhalte zu den Flüchtlingsschicksalen oder dokumentierten Raketeneinschlägen, denn so tragisch diese auch seien, ihre bloße Fülle birgt das Risiko, dass die Weltöffentlichkeit ermüde und sich einem anderen Krieg, einer anderen Konfliktzone zuwende. Um das zu verhindern, ist jeder Ansatz willkommen; zu Ostern etwa wird es ein Referat über die hiesige Kunst der Ostereierbemalung geben.

Gereiztheit, Widerstand und Angst

Die Sirenen heulen, Passanten suchen im Keller des Media Center Schutz. Mit Nikodem, Roman und Ghendris quere ich den Marktplatz; Andrij Sadowyj, der Bürgermeister, empfängt. Während von den Dächern Lautsprecherdurchsagen plärren, lässt ein Straßenkünstler riesige Seifenblasen schweben, ein Pärchen versucht, die schillernden, transparenten Gebilde zu fangen. Am Himmel die tödliche Artillerie oder ein russischer Kampfjet und in den Straßen von Lwiw eine seltsame Mischung aus Gereiztheit und Widerstand und schleichender Angst.

In den Fluren des Rathauses warten Bittsteller, Antragsuchende. Wir werden begrüßt, weiterverwiesen, vielleicht ist der Bürgermeister noch im Bunker, bei Alarm werde er gewöhnlich dorthin gebracht. Schließlich führt man uns in ein großes Büro. Darin wartet ein müder, älterer Mann: Sadowyj. Eine Katze drückt sich an sein Bein, das Glöckchen, das sie um den Hals trägt, klingelt leise. Wir posieren für ein Foto mit der litauischen Fahne, Nikodem berichtet von der Überstellung der Ambulanzwagen, die mit diesem Termin ihr offizielles Ende findet.

Die Katakomben der Garnisonskirche Lwiw dienen als Bunker. In Friedenszeiten sind sie ein Museum.
Foto: Robert Prosser

Täglich telefoniere er mit dem Bürgermeister in Charkiw, sagt Sadowyj, die Schwierigkeiten seiner Stadt seien nichts im Vergleich zu den Geschehnissen dort. Der Krieg, den der neue Hitler begonnen habe, werde seiner Schätzung nach bis September dauern. Danach müsse man die Ukraine wieder gänzlich neu aufbauen.

Drei Länder dienen Sadowyj als Bezugspunkte: Israel, das mit unvorhergesehenen Attacken zurechtkommen muss; die Schweiz, die wie eine Festung wirkt; Finnland, das militärisch aufrüstet und der Nato beitreten will. Wir brauchen schwere Waffen, betont er, wie sonst könne die Ukraine für Europa kämpfen. Mit Verweis auf das zaghafte Agieren Österreichs sagt er, dass man jegliche finanzielle Unterstützung Russlands beenden müsse. Es gehe längst nicht mehr um Gas oder Öl, nicht um Geld, sondern um die Freiheit des Westens.

Neuer Schrecken

Am Nachmittag spaziere ich mit Gregory Semenchuk durch die Straßen. In der Garnisonskirche wird ein Soldat bestattet, die Trauergemeinde reicht bis auf die Straße. An Schaufenstern und Hausmauern klebt die aktuellste Statistik. Wie viele feindliche Soldaten getötet, wie viele Jets, Hubschrauber und Panzer zerstört wurden. Mit diesem Tag sind laut der Liste 18.300 Russen gefallen.

Man trifft Bekannte, kommentiert diese Zahl, die niemand ganz ernst nimmt. Doch gibt sie Anlass, über die russische Gleichgültigkeit dem menschlichen Leben gegenüber zu rätseln. Mariupol etwa werde ausradiert wie zuvor Grosny oder Aleppo. Und nicht nur die Ukrainer seien für Putin nichts wert.

An manchen Frontabschnitten würden die verwesenden Leichen der Russen das Grundwasser verpesten, doch ihre Militärleitung mache sich nicht die Mühe, die Toten aufzulesen. Tausende sterben, und in Russland scheint das niemanden zu kümmern und keinen Widerstand gegen die eigene Regierung auszulösen.

Jegliche Menschlichkeit verloren

Täglich erreichen um die 10.000 Vertriebene Lwiw, kommen in Hotels, Turnhallen oder Kinos unter. Am Kunstpalast, einem der Zentren der Flüchtlingshilfe, bläut Gregory mir ein, keine Fotos zu machen. Schnell könnte man als russischer Agent verdächtigt werden, der mögliche Ziele auskundschaftet.

Viele stammen aus Mariupol, und die Zerstörung des dortigen Theaters, in dem Zivilisten Schutz gesucht hatten, die hunderten Todesopfer dieses Bombardements sind in schmerzhafter Erinnerung geblieben. Heute wird ein neuer Gräuel offenbar. Aus Butscha, diesem vormals hübschen, zwischen Wäldern und Teichen angesiedelten Ort nahe Kiew, in dem Bulgakow ein Sommerhaus besaß, sind die Bilder der gefolterten, vergewaltigten und erschossenen Zivilisten publik geworden.

Die Invasoren müssen jegliche Menschlichkeit verloren haben, mir gegenüber spricht man nicht mehr von den Russen, sondern von "the evil", dem Bösen. Man kenne es aus Horrorfilmen, aus Dokumentationen über die NS-Zeit. Aber jetzt ist es da, nicht weit weg von hier, die menschgewordene Bösartigkeit wütet im eigenen Land.

DER STANDARD

Wir treffen einen Bekannten von Gregory. Ein gemeinsamer Freund wurde eingezogen und ist auf dem Weg in den Donbass, man rätselt über sein Schicksal. Er ist einer der wenigen aus ihrem Kreis, die bisher ins Militär gerufen wurden. Die allgemeine Mobilmachung, mit Kriegsbeginn erlassen, bedeutet nicht viel.

Es gibt zu wenig Rüstzeug, um selbst jene der rund 60.000 wehrfähigen Männer auszustatten, die an vorderster Linie kämpfen wollen. Die Sorge um den Freund ist groß. Berichten von zurückgekehrten, verwundeten Soldaten zufolge sei, was an der Front geschehe, nicht vergleichbar mit Afghanistan oder dem Irak, den Konflikten der jüngeren Vergangenheit, nein, im Süden und Osten der Ukraine würden Artillerieschlachten wie im Zweiten Weltkrieg geführt.

Aufgezwungene Inspiration

Seit Ende Februar schreibt Gregory kaum noch. Andererseits passiert so viel an einem Tag wie sonst in einem Jahr, diese aufgezwungene Inspiration müsse man nützen, die Geschehnisse notieren, um einmal davon zu erzählen. Seine Zerrissenheit mag beispielhaft sein für die Schizophrenie, die Lwiw ergriffen hat. Man hält den Alltag so gut als möglich aufrecht, geht der Arbeit nach und versucht zugleich, den Krieg immer mitzudenken.

Man stellt Schlafplätze für die Flüchtlinge bereit. Flickt Tarnnetze. Postet Augenzeugenberichte, lernt, mit Waffen umzugehen. Man muntert sich auf, spricht sich Mut zu. Und oft hält ein Gespräch die Erkenntnis parat, dass die Fantasie, die man sich beim ersten Schießtraining noch kaum einzugestehen wagte, zusehend real geworden ist: Man sei bereit, das Böse zu töten, greife es die eigene Stadt an. Wie verwunderlich, ja beängstigend es sei, zu beobachten, wie der Hass wachse, und wie sonderbar, solchen Willen zu spüren.

Die Flugbahn der Rakete

Später sitze ich mit Nikodem, Ghendris und Roman in einem Lokal. Kaffee und Kuchen, bevor die Ausgangssperre beginnt; für einen Moment ist es, als gebe es keinen Krieg. Dann schlägt die App Alarm. Ehe die Sirenen von den Dächern heulen, vibrieren ringsum die Smartphones. Auf einer Website lässt sich die ungefähre Flugrichtung der Rakete verfolgen, die in ebendiesem Moment durch den Himmel saust und von Belarus oder der Krim aus abgefeuert worden ist.

Eine Landkarte der Ukraine ist je nach Risiko gefärbt, Grün bedeutet Sicherheit für die jeweilige Provinz, die Oblast Lwiw aber ist in Orange gehalten. Wegen des Alarms wird das Lokal geschlossen. Das vorwiegend junge Publikum verstreut sich in den Straßen oder steigt in die Katakomben der nahen Garnisonskirche. Das Gewölbe dient als Bunker.

Zu Friedenszeiten ist es ein Museum, zwischen den ausgestellten Knochenstücken und Schädelfragmenten steht ein massiver gusseiserner Sarg, Dioramen zeigen das historische Lemberg. In leeren Grabnischen tuscheln Jugendliche, die Displays der Smartphones tauchen ihre Gesichter in steriles Licht, von oben dringt das Gemurmel eines Gebets durch das Mauerwerk, dem Luftalarm zum Trotz findet ein weiteres Begräbnis statt.

Artillerieschlacht

Am nächsten Morgen brechen wir um halb sieben auf. Es ist unverändert kalt, windig, auf den Dächern liegt eine dünne Schicht Schnee. Ein Freund von Roman bringt uns zurück. Ghendris trägt einen großen Rucksack mit reflektierenden Streifen. Er hat sich die militärische Schutzweste übergezogen, daran baumelt sein schwarzer Helm.

Man braucht ihn nicht im Kriegsgebiet. Ausländer dürfen nicht mehr an die Front, die Gefahr von Kidnappings sei zu hoch, seit gestern gilt das neue Dekret. Es sei ein Krieg der schweren Geschütze, sagt er, Freiwilligen, wie er selbst im Nahkampf trainiert, könnten nichts ausrichten gegen die Bomben, das müsse man akzeptieren.

Nikodem bleibt vorerst in Lwiw, Ghendris begleitet mich retour nach Przemyśl. Dort will er die Bestände an Antibiotika durchsehen, das stärkste, breitenwirksamste den ukrainischen Kampfeinheiten zukommen lassen. Gegen acht sind wir an der Grenze, gehen zu Fuß weiter. Busse bringen Frauen und Kinder, nur wenige haben Gepäck bei sich. Vor mir wird einem jungen Mann die Ausreise verwehrt, er muss im Land bleiben.

Ein Schritt in die EU

Schnell passiert man die ukrainische Seite, dann wartet eine Gruppe dick eingepackter, in der Kälte trippelnder Menschen, bis sich die Tür des polnischen Postens öffnet. Nachdem der Pass retourniert wurde, gehen wir zwischen hohen, grünen Zäunen auf eine Ansammlung von Zelten zu, dem ersten Beleg für das weitreichende Netzwerk an Unterstützung.

Ein Schritt, und man ist in der EU, wird willkommen geheißen von UNHCR, Red Cross, Red Crescent; es gibt Kaffee, Tee, Suppe, eine Ladestation für Smartphones. Ob er bis zum Ende seines Urlaubs in Polen bleibt, frage ich Ghendris. Anscheinend, antwortet er, habe ein deutsches Spital weitere Krankenwagen gespendet, die müssten auf jeden Fall kriegstauglich gemacht werden. Und vielleicht komme er doch noch an die Front. Wer kann schon wissen, was morgen passiert. (Robert Prosser, ALBUM, 7.5.2022)