Bayterek Tower, Nur-Sultan, Kasachstan

5. September 2017

"Bitte hier anstellen! Sie sind bald an der Reihe." Na gut. Vor mir eine Schulklasse, laut und aufgebracht, durch das golden folierte Glas fällt ein eigenartig gelbes Licht in die 22 Meter große Kugel. Die Aussicht auf Astana, das erst wenig später von Nursultan Nasarbajew in Nur-Sultan umbenannt wurde, weil so macht man das, wenn man Herr im eigenen Staat ist, wirkt befremdlich. Alles symmetrisch, weiß gekachelt, mit goldenen Glasfassaden verkleidet, als hätte Buzz Aldrin im Raumanzug Lego gespielt. Einen Kilometer entfernt sehe ich den Ak-Orda-Palast mit seiner himmelblauen Kuppel, eine Irgendwie-Kopie des Washingtoner Kapitols. Dann bin ich dran. Plötzlich stehe ich vor diesem zentnerschweren Marmorsockel mit der Platte aus massivem Gold, in der Mitte der angeblich realgroße Handabdruck des kasachischen Autokraten, eine Pranke wie von einem sowjetischen Bären. "Sie müssen die Hand in die des Präsidenten legen", sagt die freundliche Dame im türkisen Stewardess-Kostüm. Warum? "Hand reinlegen!" Sicher nicht. "Ihre Hand!" Es wird mucksmäuschenstill in der Kuppel. Versteinerte Stimmung. Nein.

"Hand reinlegen!" Im 97 Meter hohen Bayterek Tower im neu geschaffenen Stadtzentrum von Nur-Sultan liegt eine massive Goldplatte mit dem Handabdruck des ehemaligen kasachischen Präsidenten Nursultan
Nasarbajew. Das Protokoll schreibt eine genaue Choreografie des Turmbesuchs vor.
Foto: Wojciech Czaja

Bahnhof Friedrichstraße, Berlin

4. Mai 1989

West-Berlin in den 1980er-Jahren, die Mischung aus grün-spießiger Idylle und anarchischem Laisser-faire. An der Mauer diese Melancholie einer Stadt, in der plötzlich auf die Pausetaste gedrückt wurde, eine elektrisch aufgeladene Leere. Dann: erster Besuch in Ost-Berlin. Am Bahnhof Friedrichstraße kreuzen sich U- und S-Bahn der beiden Staatssysteme auf eine Weise, die sich Jorge Luis Borges nicht besser hätte ausdenken können. Ausstieg in der Bahnhofshalle, der Länge nach durch eine hohe Betonwand geteilt. Hinunter in ein niedriges, gekacheltes Labyrinth im Neonlicht. Schlange stehen. Beklemmung macht sich breit. Der Raum wird immer kleiner, bis er sich zwischen grauen Kabinen durchzwängt, in denen DDR-Grenzer mit verschwitzten Gesichtern auf den vorgelegten BRD-Pass schauen, dann ins Gesicht. Auf den Pass. Ins Gesicht. Auf den Pass. Ins Gesicht. Auf den Pass. Ins Gesicht. Irgendwann wird man auf der tatsächlichen Friedrichstraße ins Tageslicht ausgespien, schon passenderweise geduckt und klein gemacht, zum Untertanen portioniert, wachsame Augen hinter jedem blinden Fenster ahnend.


Krakowskie Przedmieście und Plac Marszałka Józefa Piłsudskiego, Warschau

10. August 2010

Exakt vier Monate ist der Flugzeugabsturz von Smolensk jetzt her, und sie sind immer noch da. Hingelagert auf Decken vor den Toren des Präsidentenpalastes wie in einem Gemälde, mit faltigen Gesichtern und bäuerlichem Gewand, manche nahe dem Greisenalter. Um sie herum drapiert ein Arrangement aus Fotos von Lech Kaczyński, Kartons mit handgemalten Verschwörungsparolen (Russen waren schuld), Blumengestecken, Erntedankgemüse vom Feld, Kerzen und sehr viel Jungfrau Maria. Was bedeutet dieses rural-biblische Tableau vor dem Gitterzaun am Pałac Prezydencki? Und was hat die Jungfrau Maria mit dem toten Präsidenten zu tun? "Die Protestierenden", sagt der Taxifahrer, "werden von konservativen Gruppen mit Bussen vom Land in die Hauptstadt gekarrt, und die Jungfrau Maria gilt als Beschützerin Polens." Was der Taxifahrer zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Schon bald wird Jarosław Kaczyński, damit er für seinen verstorbenen Zwillingsbruder ohne Genehmigung des Stadtplanungsgremiums eine Statue errichten kann, den Piłsudski-Platz mittels eines neu geschaffenen Passus im Militärgesetz aus dem Stadtgebiet Warschaus herauslösen und zu einer von allen Baugesetzen befreiten Militärzone erklären. Der Herr will es so.


Pjöngjang, Nordkorea

17. Dezember 2015

Immer wieder verbeugen. Das ist es, was sie uns gesagt haben, was wir tun sollen. Kim Il-sung: verbeugen. Kim Jong-il: verbeugen. Kim Jong-un: verbeugen. Vor jeder Statue, vor jedem Foto, jedem Gemälde, jedem Mosaik, und davon gibt es eine Menge im ganzen Land. Manchmal findet man sie als steinverkleidete Betonmonumente am Straßenrand, manchmal als Konterfei über dem Haupteingang öffentlicher Bauten, im Kumsusan Palace in Pjöngjang stehen zwei Kims als lebensgroße Wachsfiguren auf einem roten Treppenpodest. Man muss sich schon sehr konzentrieren, nicht zu lachen, während man den Oberkörper gleichzeitig mit allen anderen vornüberbeugt. Ansonsten gibt es wenig zu lachen. Das ganze Land ist grau, viel Stein, viel Beton, breite Autobahnen, wenig Autos, manchmal keine Elektrizität. Das verstörendste Bild meiner Reise: Sobald wir aus dem Reisebus ausgestiegen sind, füllt sich der sonst leere, öffentliche Raum innerhalb von Minuten mit tausenden Menschen. Sie kommen, um mit ihren privaten Strohbesen von daheim die Straße zu kehren und die Denkmale zu entstauben. Frei willig. Hat man uns gesagt.


Changsha, China

28. Juli 2019

"Was ist das da drüben?" Keine Ahnung, ein ziemlich großer Kopf. "Ist das der Mao?" Eine halbe Stunde später steigen wir auf der Insel Jujizhou aus, eine Art Donauinsel im Xiang Jiang River, der mitten durch die Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt Changsha fließt. Der Young Mao Zedong, so heißt der 32 Meter hohe Granitkopf, schaut Richtung Süden, wehendes Haar, ein bisschen wie Mount Rushmore, nur ohne Kollegen und ohne Black Hills im Nacken. Errichtet zwischen 2007 und 2009 aus 800 Tonnen Granit, 83 Meter lang, die Anzahl seiner Lebensjahre, 41 Meter breit, genau so viele Jahre war er an der Spitze der Kommunistischen Partei. Tausende Menschen mit Bräunungsblocker im Gesicht und Ganzkörper-Sonnenschutzanzug auf engstem Raum, die Handykameras gezückt, beste politische Propaganda. Wie war das noch mal vor ein paar Tagen in Schanghai? Auf dem Renmin Square, dem Platz des Volkes, schaut nicht Mao zu, sondern unser aller großer Bruder. Der Platz ist gespickt mit Millionen Videokameras. Sobald mehr als fünf Personen beisammenstehen, rollt paar Sekunden später ein Polizist am Roller herbei und trennt uns.


Museum of Contemporary Art, Teheran

9. April 2015

Bunte Ballons baumeln vor dem grimmigen Gesicht des Ajatollah, er wirkt wie ein Urgroßvater, der gegen seinen Willen auf einem Kindergeburtstag gute Miene machen muss. In Gold gerahmt hängt er an der Betonwand des Museums für zeitgenössische Kunst, das zwei Jahre älter ist als die Islamische Revolution. Entworfen von Schah-Schwager und Architekt Kamran Diba, eine sandfarbene und sehr schöne Melange aus Brutalismus und iranischer Tradition. Ein paar Räume weiter posieren vier junge Teheraner vor einer Wand abstrakter digitaler Kunst. Einer deutet auf mich: Hey, der kann ein Foto von uns machen, die Geste braucht keine Übersetzung. Lachen, Strahlen, Danke. Auch auf den Straßen, in Bäckereien, Cafés, Restaurants, Parks: überall allumfassende Freundlichkeit. Besuch bei den Architekten: offene Gesichter, Neugier, Höflichkeit, Tee, alkoholfreies Bier mit Fruchtgeschmack. Bis mich ein junger Praktikant beiseitezieht. Ob es möglich wäre, ihm ein Studium im Westen zu ermöglichen. Es wäre wirklich wichtig. In seinem Gesicht: großäugige Verzweiflung. Um sein Handgelenk trägt er ein dünnes Armband in Regenbogenfarben. (Wojciech Czaja, Maik Novotny, Phil Salesses, 9.5.2022)