Demokratisches Leadership, Führung, besteht darin, Vielfalt und Unterschied zu ermöglichen und alles dazu zu tun, dass diese Unterschiede nebeneinander existieren können.

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Krisen sind Zeiten, in denen sich zeigt, was nicht mehr zu verbergen ist. Krisen können helfen, den Durchblick zu kriegen und sich nicht länger in die eigene Tasche zu lügen. Dort ist mittlerweile so viel gelandet, dass der Sack prall gefüllt ist. Aber es hilft nichts. Die Wahrheit, hat Ingeborg Bachmann gesagt, ist dem Menschen zumutbar.

Ob "die Menschen" diese Zumutungen gerne hören? Der deutsche Historiker Götz Aly holt immer wieder Lügen aus dem Sack und legt sie den Deutschen und Österreichern, die in den demokratischen Nachfolgestaaten von Hitlers Stammlanden aufwuchsen, vor die Nase.

Die Vergangenheit, lernen wir, ist nicht vorbei, sie hat sich nur verkleidet und einen neuen Namen gegeben. Diktaturen und Pseudodemokratien bauen auf falschen Gefälligkeiten. Aly nennt das Dritte Reich eine "Gefälligkeitsdiktatur", in denen die Komplizenschaft des Volkes mit dem Regime materielle Vorteile brachte – höhere Löhne, mehr Urlaub und eine Vielzahl an Sozialgesetzen, die es bis heute gibt.

Tyrannen rechnen scharf. Sie kennen das uralte Geschäftsmodell, mit dem Macht sich eine Basis schafft. Im alten Griechenland und in Rom entwickelt, verteilt man damit Gefälligkeiten, Brot, Spiele, errichtete also Konsumgesellschaften, die mit Krieg und Raub finanziert wurden. Die Opfer zahlen ihre Vernichtung selbst. Was von der Beute übrig bleibt, wird zu Hause zur sozialen Prämie, um das Volk bei Laune zu halten.

Gefälligkeitsdiktaturen zeigen, dass die Leute es gern bequem haben, übersichtlich. Diese Komfortzonen führen in die Tyrannei. Demokratie ist dagegen lästige Arbeit, verhandeln, aushalten, Vielfalt erkennen und mit ihr umgehen, Komplexität eben. Wie viele Leute kennen wir, die sich das gern freiwillig antun – und wie viele, die ohne Murren parieren, wenn es dafür was Hübsches gibt? Das ist das Problem.

Politik, die ihr Volk verkauft

Jeden Tag zahlen die Westeuropäer 700 Millionen Euro für Gas in Putins Kriegskasse, also für die Unterwerfung der Ukraine, der die eigene auf dem Fuß folgen wird. Das Establishment der Gefälligkeitsdemokratien aber hat mehr Angst vor der Verstimmung des Wahlvolks als vor solchen Konsequenzen.

Es ist wie beim Klimawandel. Ja, die Menschheit geht unter – aber noch nicht in dieser Legislaturperiode. Aber in dieser Legislaturperiode würde Energie teurer. Wer wird schon seine Wähler verärgern? Die Frage ist nur, wie verärgert die sein werden, wenn sie merken, dass der Krieg sie selbst erfasst?

Im Westen redet man viel über die Werte, die man nun gegen Putin und andere Despoten verteidigen muss, aber kennen wir sie eigentlich? Was steht ihnen entgegen? Gefälligkeiten, ja, Populismus, sicher. Aber vor allen Dingen eben dieses: die Illusion des Überschaubaren, Einfachen, Berechenbaren, Planbaren.

Was es immer gab, Politik, die ihr Volk kaufte, hat in der Kultur des Industriekapitalismus ein Haus erhalten, das scheinbar keine Fenster und Türen mehr hat. Das liegt an der Kultur, und über die muss man reden. Sie entscheidet darüber, wie wir die Welt sehen – und wo Demokratie aufhört und Autokratie anfängt.

Die Grenzen sind fließend, deshalb muss man genau hinschauen, auf die Kultur. Die Industriegesellschaft hat uns in den letzten 200 Jahren reich gemacht, die Lebenserwartung verdreifacht, das Vermögen der Westeuropäer verfünzfigfacht. Nicht schlecht. Aber auch die schlimmsten Tyrannen der Geschichte entspringen dieser Kultur.

Denken in Alternativlosigkeit

Hitler, Stalin, Mao und Putin sind Kinder des für den Industrialismus so typischen Denkens in Alternativlosigkeit, in Eindeutigkeit, die Vielfalt und Diversität radikal ablehnen. Mechanistisches Denken, die Scheinlogik der Industriegesellschaft, verträgt sich nicht mit Demokratie und Vielfalt, Transformation und positivem Fortschritt. Es war Margaret Thatcher, die das Wort "Alternativlos" in die Diskussion brachte, Angela Merkel hat es nur aufgenommen. Industriemanager benutzen es gern. Ein Totalembargo von Gas?

Russisches. Gas. Ist. Alternativlos.

Martin Brudermüller, der Chef des Chemiekonzerns BASF, sprach aus, was Manager denken. Dem Spiegel erklärte er, der Verzicht aufs Gas würde zur "größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg führen", zu einer "Zerstörung der gesamten Volkswirtschaft". Superlative, die zeigen, wie gedacht wird: schwarz, weiß, ja, nein.

Differenziertes Denken sieht anders aus. Man findet es etwa bei der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm, die konterte, dass ein Weiter so ohne Totalembargo die höchsten Folgekosten hätte, materiell, menschlich, moralisch.

Die Realität ist keine Excel-Datei

Zwischen drei bis fünf Prozent des BIPs, so die Prognosen der Ökonomen, würde das totale Gasembargo kosten. Was kostet die Unterwerfung?

Nun gibt es viele Leute in der Industrie, die verstanden haben, was sich in der komplexen Wissensgesellschaft geändert hat, aber der Mainstream sind sie noch lange nicht. Das sind die alten Industrialisten, Manager, leitende Angestellte, die in gefährlichen Polarisierungen denken – autokratisch, nicht pluralistisch, also demokratisch, vielfältig.

Industrialisten sind auch gefährlich, weil sie nicht können, was sie stets behaupten: rechnen, jedenfalls nicht im Zusammenhängen und Bedeutungen. Ihre Realität ist kontextfrei, eine Zelle in der Excel-Tabelle, in der die Zahlen stehen, die ihre Welt bedeuten. Für Folgen sind sie nicht zuständig. Das geht sie nichts an. Das ist zu kompliziert. Damit schaffen sie eine Welt der vermeintlichen Eindeutigkeit und Übersicht. Ihre Welt ist so quadratisch, praktisch gut wie die des schwäbischen Schokoladeherstellers Ritter, der sich lautstark gegen ein Lieferembargo ins Putin Land aussprach.

Es zählt der Quartalsbericht

Es ist eine schlichte Welt, deren weitreichende Folgen andere tragen und dafür bezahlen, so wie es schon bei der Externalisierung der Umweltfolgekosten der Produktion geschieht. Es zählt der Quartalsbericht, so wie beim Politiker die Wahlperiode. Dahinter, dazwischen ist das große Nichts, aber das ist überschaubar. Dieser industrielle Determinismus, diese Planwirtschaft, ist einfältig. Ihr Gegenpol sind die bewussten Unterschiede, die Vielfalt, die Differenz.

Alternativen sind in dieser Welt keine Bedrohung, sondern eine Notwendigkeit, wie in der Demokratie auch. Lernen bedeutet, dass man bessere Informationen hat – und nicht gegen besseres Wissen bei dem bleibt, was war.

Demokratie heißt wählen, etwas unterscheiden dürfen.

Die Wahl zu haben, das ist ein elementares Menschenrecht. Die Marktwirtschaft ist dem im Grunde verpflichtet. Mit der hat der Industrialismus wenig zu schaffen. Er paktierte schon im 19. Jahrhundert mit den Ideologien der Masse und Einheit.

Gustave Le Bon schrieb 1895 sein Psychologie der Massen, wo man das nachlesen kann. Der Mensch wird so normiert wie die Produkte, die von der Stange kommen. Sie zwingt das Individuum in die feste Form. Das ist die neue Welt. Sie passt gut zur Autokratie, die sich im Vorfeld des Faschismus und Stalinismus in der Industriegesellschaft neu formiert.

Industrielle Jammerlappen

In der Industriellen Revolution kämpften die Bürgerlichen noch gegen das Ancien Régime und seinen absoluten Machtanspruch. Die jungen Unternehmer waren Revolutionäre, der große österreichische Ökonom Joseph Schumpeter nannte sie einmal "Haudegen". Leute, die sich was trauen und für Vielfalt und Erneuerung kämpfen. Doch aus ihnen, so klagte Schumpeter, wären Bürokraten des Industrialismus geworden, "Jammerlappen" nannte er sie.

Diese Leute würden sich ständig bei der Politik beklagen, nach Subventionen und Gefälligkeiten anstellen. Innovationen gelten als Störung der Betriebsabläufe. Alternativen als Sabotage am Plan. Gehandelt wird nur, wenn es vorher eine politische Entscheidung gab, wenn sich das Management absichern kann. Die Reste der Revolution krochen immer klarer an die Seite der Autokratie. Demokratie, Teilhabe, Selbstbestimmung – das stört doch nur!

Rudolf Hilferding, später kurzzeitig deutscher Finanzminister, erdachte eine neue Ordnung, die Lenin wenig später "Staatsmonopolkapitalismus" nennen sollte. Das ist ein kultureller Pakt zwischen den Beamten in den Konzernen, dem Management, und den Beamten der Regierung, die einander blind verstehen und die freie Wirtschaft sukzessive in eine Planwirtschaft umleiten, ohne das so zu nennen. Regelexzesse, Gesetzesfluten, Monopole – so, das wusste Lenin, wird der Kapitalismus durch die Bürokratie kastriert. Wer heute schaut, wie weit wir gekommen sind, weiß, wie gut die Prognose war.

Die ersten Manager wurden unter englischen Gefängnisdirektoren angeheuert, die man in Fabriken einsetzte. Das Wort selbst leitet sich von der "Manege" ab, im Zirkus der Ort, an dem der Dompteur das wilde, durch Gewalt gezähmte Tier vorführt.

Zuckerstange als Peitsche

Darum geht es. Demokratisches Leadership, Führung, besteht darin, Vielfalt und Unterschied zu ermöglichen und alles dazu zu tun, dass diese Unterschiede nebeneinander existieren können. Damit werden Alternativen gefördert, Innovationen.

Demokraten können sich etwas Besseres vorstellen. Autokraten hingegen verteidigen ihre Macht und ihre Beute. Sie sind der Dompteur mit der Peitsche, der für seinen Dressurakt Planungssicherheit von der Politik verlangt. Das ist auch dann so, wenn die Worte geschmeidiger geworden sind und die Peitsche die Form einer Zuckerstange hat.

Heute ist überall "Team" und "Du" und "Wir", aber wie ist es wirklich? In vielen Organisationen wird Demokratie und Selbstbestimmung, Vielfalt und Gerechtigkeit jeden Tag diskreditiert. Wahlfreiheit? Selbstständigkeit? Ach was. Der Chef hat recht. Basta. So erleben täglich viele die Wirklichkeit als Schule der Autokratie. Nein, wir leben unsere Werte nicht, und deshalb sind wir in ihrer Verteidigung so zaudernd. Das ist so. Autokratie ist Mitschuld, Demokratie Mitarbeit. Das ist der Unterschied zwischen Tod und Lebendig. (Wolf Lotter, 8.5.2022)