Putin mit dem damaligen OMV-Chef Seele: Welche Rolle spielt Moral bei wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen?

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Mit ihren bunten, quadratischen Tafeln und originellen Geschmacksrichtungen gehört Ritter Sport seit Jahren zu den beliebtesten Marken in Deutschland. Doch dieses Image ist plötzlich angepatzt: Die Entscheidung des schwäbischen Schokoladenherstellers, den großen russischen Markt nicht zu verlassen, hat viele Schoko-Fans empört.

"Schämt euch, in so Zeiten mit Russland Geschäfte zu machen", lautete einer der Tweets, mit denen zu einem Boykott aufgerufen wurde. Ritter Sport wehrt sich: Man werde den in Russland gemachten Gewinn spenden, aber die Verkäufe in seinem zweitgrößten Markt nicht einstellen.

In einer Zeit, in der täglich neue Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine bekannt werden, ist es nachvollziehbar, dass die süßen Tafeln manchen nicht mehr schmecken. Aber die Forderung, man dürfe nicht einmal Schokolade in Russland verkaufen, wirft eine Fülle schwieriger Fragen über das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Moral auf.

Denn selbst die Befürworter eines harten Sanktionskurses gegenüber Wladimir Putin können nicht behaupten, dass der Verkauf von deutscher Schokolade in Moskau und St. Petersburg die russische Kriegsmaschinerie stärkt. Es bringt dem Kreml keine Devisen und den Truppen keine Munition. Hinter der Kritik steht die Überzeugung, dass Geschäfte mit Diktaturen grundsätzlich fragwürdig sind und Gewinne in einem Land, dessen Regierung Verbrechen begeht, den Profiteur mitschuldig machen.

Ja zu Gas, Nein zu Schoko?

Aber wenn schon von einem Mittelstandsunternehmen, das auch Arbeitsplätze und Wohlstand schafft, verlangt wird, seine Geschäftsstrategie nach den höchsten moralischen Ansprüchen auszurichten, um wie viel mehr muss das für Staaten gelten? Müssten Demokratien nicht alle wirtschaftlichen Beziehungen mit Ländern einstellen, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden?

Oder muss nur dort verzichtet werden, wo es weniger wehtut – also Österreich und Deutschland weiterhin um hunderte Millionen Euro täglich russisches Gas beziehen können, weil ein Boykott ihrer Wirtschaft massiven Schaden zufügen würde, während der Export von deutscher Schokolade oder italienischen Luxushandtaschen relativ leicht für den Anstand geopfert werden kann?

Die Entscheidung des schwäbischen Schokoladenherstellers, den großen russischen Markt nicht zu verlassen, hat viele Schoko-Fans empört.
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Aber mit welchen Staaten darf ein Land wie Österreich dann überhaupt Geschäfte machen? Nur mit lupenreinen Demokratien? Müssten wir die Handelsbeziehungen zu Viktor Orbáns Ungarn einstellen, und hätten wir auch die USA in den Jahren der Trump-Präsidentschaft boykottieren sollen? Oder müssen nur offene Diktaturen wie China auf eine schwarze Liste gesetzt werden? Das wäre ganz besonders teuer, denn China steht bei den Importen an zweiter Stelle nach Deutschland und bei den Exporten auf Platz neun.

Zwischen Realismus und Idealismus

Wer eine Antwort sucht, muss sich ins Spannungsfeld zwischen den Denkschulen des Realismus und des Idealismus begeben.

Auf der einen Seite steht die Überzeugung, dass Moral weder in der Außenpolitik eines Landes noch in der Wirtschaft eine Rolle spielen sollte. Staaten dürfen sich demnach im Sinne ihrer Bürgerinnen und Bürger nur von nationalen Interessen lenken lassen. Eine allzu große Abhängigkeit wie im Fall des russischen Gases ist nur deshalb problematisch, wenn es ein Land verwundbar macht.

Aus pragmatischen Gründen sollte man auch auf die Interessen gewisser Partnerstaaten Rücksicht nehmen. Aber wie Regimes ihre eigene Bevölkerung behandeln, spielt in dieser Denkschule keine Rolle. Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten führten bloß zu Konflikten oder gar blutigen Kriegen – von den Religionskriegen, die erst der Westfälische Frieden beendet hat, bis zu US-Interventionen in Vietnam oder Irak.

Lieferkettengesetze

Eine solche Haltung ist in einer lebendigen Demokratie jedoch kaum durchzuhalten. Denn für die meisten Menschen enden die eigenen Werte nicht an der Staatsgrenze. Doch ein reiner Idealismus würde die möglichen politischen und wirtschaftlichen Außenbeziehungen eines Landes auf einen recht kleinen Kreis von Demokratien beschränken und wenig zur Verbesserung der Welt beitragen.

Auf Öl, Gas und andere Rohstoffe müssten wir in Europa großteils verzichten, denn die kommen meist aus Autokratien. Und Menschen in Entwicklungsländern hätten weniger Chance auf jenes Wirtschaftswachstum, das Exporte und Auslandsinvestitionen mit sich bringen.

Wer Unrecht effektiv bekämpfen will, muss differenziert an die Frage herangehen. So könnte der Boykott von Produkten, die unter Zwangsarbeit, Kinderarbeit oder anderen menschenrechtswidrigen Praktiken hergestellt werden, tatsächlich Standards erhöhen und Arbeitsbedingungen verbessern. Das ist der Gedanke hinter den Lieferkettengesetzen, die von der EU vorangetrieben werden.

Unwirksame Sanktionen

Aber ob generelle Wirtschaftssanktionen gegen Unrechtsstaaten eine positive Wirkung zeigen, ist viel weniger klar. Der immer häufigere Einsatz von Sanktionen in den vergangenen 40 Jahren hat fast nie seine Ziele erreicht. Eine Sanktionspolitik ist auch selten konsequent: Warum kaufen wir Öl aus Saudi-Arabien, aber nicht aus dem Iran?

Noch fragwürdiger ist das Konzept von "Wandel durch Handel", den die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Ostpolitik gegenüber der DDR und der Sowjetunion verfolgt hat. Ob die Handels- und Geldströme in den 1970er- und 1980er-Jahren den Untergang des Kommunismus beschleunigt haben, steht nicht eindeutig fest.

Womöglich wurde der wirtschaftliche Kollaps dadurch herausgezögert statt beschleunigt. Die enge wirtschaftliche Verflechtung mit China hat die Diktatur bloß gestärkt. Und die weitverbreitete Hoffnung, dass Länder, die miteinander Handel betreiben, keinen Krieg führen, hat sich bereits 1914 als falsch erwiesen – und jetzt wieder im Falle Russlands.

Demokratien können weder eine abgebrühte Interessenpolitik konsequent durchziehen noch einen Kurs, der allein auf ethischen Prinzipien beruht. Das Erstere wäre für eine aufgeklärte Öffentlichkeit unerträglich, das Letztere weltfremd. Von Mal zu Mal müssen Entscheidungsträger zwischen diesen Polen navigieren und sich stets dem Vorwurf aussetzen, dass sie den Wohlstand der eigenen Bevölkerung gefährden oder ihre Werte verraten. Und beides kann zutreffen. (Eric Frey, 7.5.2022)