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Vor dem Krieg hatten Studierende in Russland noch Freiheiten. Nach dem Überfall auf die Ukraine ist damit Schluss.

Foto: AP/Alexander Zemlianichenko

Den Studierenden auf den Fluren der staatlichen Higher School of Economics (HSE) in Moskau steht die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Es ist der 2. Juli 2021, tags zuvor hatte Rektor Jaroslaw Kusminow seinen sofortigen Rücktritt verkündet. Ohne Vorwarnung und über Nacht, nachdem er die Uni seit ihrer Gründung 1992 geleitet und zu einem Aushängeschild liberaler Bildung in Russland gemacht hatte. Es war nur ein Vorgeschmack auf das Ende der universitären Freiheit, die ein Dreivierteljahr später besiegelt sein sollte. Das ahnte damals schon HSE-Studentin Irina (Name geändert): Die Dinge würden nicht anders, sondern nur schlimmer, warnte sie.

Sie hat recht behalten: Die Rektoren staatlicher Universitäten werden in Russland von der Regierung ernannt, also bestellte der Kreml mit Nikita Anissimow einen Apparatschik als Kusminows Nachfolger und sicherte sich damit die Linientreue der Universität. Das wurde spätestens mit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine glasklar. Anissimow unterzeichnete gemeinsam mit 259 Rektoren im Land bereits Anfang März einen offenen Brief, worin er der Regierung seine Unterstützung aussprach und sämtliche Kreml-Slogans von "Demilitarisierung" bis "Entnazifizierung" der Ukraine wiederholte.

Letzter Freiraum für liberale Russen

Plakate auf den Fluren erinnern die Studierenden seither daran, dass die Verbreitung angeblicher "Fake News" über den russischen Angriffskrieg per Gesetz verboten ist. Auch wenn die liberale Haltung seit jeher mehr PR als gelebte Hochschulkultur gewesen sei, so sei damit nun gänzlich Schluss, sagt Irina heute. Sie zweifelt daran, dass sie ihr Studium an der HSE unter den neuen Umständen zu Ende bringen will. Denn ihr Betreuer musste Russland im März verlassen – aus Sicherheitsgründen. "Es gibt hier keinen Liberalismus mehr – und es wird sicher nur noch schlimmer."

Die Entwicklung beobachtet auch ihr Kommilitone Alexander – auch sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert: "Das alles hat nicht erst gestern angefangen." Schon der frühere Rektor habe Lehrkräfte entlassen und die Studentenzeitung "Doxa" abgedreht. Doch der Krieg wirkt als willkommener Brandbeschleuniger, um einen der letzten Freiräume für liberale Russen und Russinnen vollends zu vereinnahmen.

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Schwierige Zeiten für kritischen Journalismus: Redakteurinnen und ein Redakteur des Studentenmagazins "Doxa" bei einem Gerichtstermin im April 2021.
Foto: AP/Denis Kaminev

Keine Putin-Witze mehr

Freilich war der akademische Betrieb schon immer Gegenstand politischen Drucks, aber es gab keine offenkundige Zensur und Massenrepressionen. "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich irgendetwas nicht sagen darf", erinnert sich etwa eine Studentin, die bis 2018 in Iwanowo Internationale Beziehungen studierte. Auch wenn Lehrende niemals die russische Führung infrage stellten – unter Studierenden wurde freimütig über Putin gewitzelt.

"Das ist jetzt anders", sagt Sergej Gurijew, der einst das russische Präsidialamt als unabhängiger Ökonom beriet und nun in Paris im Exil lebt, dem STANDARD. Der ehemalige Rektor einer privaten Eliteuni in Moskau weiß, wovon er spricht: Er wurde bereits 2013 unter Druck gesetzt, das Land zu verlassen – nachdem er sich in der Öffentlichkeit kritisch über Staatsangelegenheiten geäußert hatte.

Bis vor kurzem sei Russland eine "Spindiktatur" gewesen, in der es hauptsächlich um die Kontrolle des öffentlichen Diskurses gegangen sei, so Gurijew, der kürzlich das Buch "Spin Dictators" veröffentlicht hat. Global vernetzte Bildungseliten seien toleriert worden, verliehen sie – sofern diskret – dem System doch einen liberalen Anstrich. Nun regiere Putin statt mit Spin mit Angst – auch die Unis.

"Aufklärungsvorlesungen" an russischen Unis

Studenten, die gegen den Krieg protestieren, drohen die Exmatrikulation und eine Festnahme. NGO-Schätzungen zufolge wurde hundert Studenten mit dem Rausschmiss gedroht. Zahlreiche Rektoren wurden in den Monaten vor dem Krieg abgesetzt oder unter fadenscheinigen Angaben verhaftet. Nun haben auch etliche Dozierende die Universitäten oder das Land notgedrungen verlassen.

Viele Lehrende und Studierende sehen sich unter dem Druck gezwungen, die Unis oder das Land zu verlassen. Im Bild: die staatliche Universität Moskau.
Foto: AFP/ALEXANDER NEMENOV

Auf Vorlesungen und Seminare nimmt der Staat jetzt direkt Einfluss: An vielen Universitäten im Land werden "Aufklärungsvorlesungen" zur "historischen Aufgabe" Russlands abgehalten oder liberale Module gestrichen, wie etwa Walerija berichtet. Die 23-Jährige ist Absolventin des Politiklehrgangs am Journalismus-Institut der Moskauer Staatsuniversität, der ab Herbst nicht mehr angeboten wird – angeblich "aus Mangel an Interesse".

Walerija, die für einen unabhängigen TV-Sender arbeitet und sich nach Kriegsbeginn ins georgische Exil absetzen musste, zweifelt die Begründung an. Der Programmdirektor der Uni war zwar immer auf staatlicher Linie und habe für die Erstsemestrigen auch Vorträge von "Putins Propagandachef", dem im Westen sanktionierten Journalisten Dimitri Kisseljow, organisiert. Doch Lehrende und Studierende hätten daneben viel Freiraum gehabt, um sich kritisch mit Politik auseinanderzusetzen. Das soll nun unterbunden werden.

Tief verankerte Geheimdienstlogik

Auch an der HSE wurde jüngst ein Menschenrechtsmaster gestrichen. Für viele begann die härtere Gangart gegen Dissens an der Uni schon mit dem Fall Gassan Gussejnow, der bis 2020 dort lehrte. Er hatte die Rhetorik des Politdiskurses auf Facebook als "Kloakensprache" bezeichnet. Dafür wurde ihm zuerst "Russophobie" und nach einem weiteren Kommentar, in dem er eine Aussage Susan Sontags über die Beweggründe tschetschenischer Terroristen erläuterte, auch vonseiten einiger Lehrkräfte Extremismus vorgeworfen. Mit diesen Begriffen werden in Russland auch heute oft oppositionelle Äußerungen und jene, die sie tätigen, diffamiert. Dann folgte eine Prozessdrohung, Gussejnow entschloss sich, Russland zu verlassen. Kurz zuvor hatte die Uni unter Verweis auf den öffentlichen "Streit" um sein Statement zur "Kloakensprache", der eher einer Kampagne glich, in einem neuen Ethikkodex Dozierenden "kontroverse" öffentliche Äußerungen untersagt.

Laut Gussejnow war dies jedoch nur ein willkommener Vorwand, um Dozierende allgemein in ihrer Redefreiheit zu beschränken: "Der Ethikrat dachte schon länger: Wir brauchen ein Instrument, um die Leute zum Schweigen zu bringen", berichtet er im Gespräch mit dem STANDARD und verweist auf entsprechende Dispute im Wissenschaftsrat der HSE, dessen Mitglied er war. Statt einer Abkehr von liberalen Werten sieht der exilierte Gussejnow darin vielmehr eine folgerichtige Entwicklung und spricht im Interview von einer "Geheimdienstlogik", die an der Uni schon immer verankert war. Nach dieser müsse Dissens ausgeschaltet statt gefördert werden, wozu auch die Konstruktion eines klaren Feindbilds gehöre.

Doch auch Druck von außen dürfte bereits damals eine Rolle gespielt haben. Prof. Georg Witte, der 2019 die Leitung der Petersburger Philologie antrat und diese mittlerweile aus Protest niedergelegt hat, berichtet von einem Gespräch über Gussejnows Fall mit dem Rektor des dortigen Campus. "Er versicherte mir damals, unter welch extremem Druck die Uni stünde. Man warte nur auf eine Gelegenheit, ihn und Kusminow loszuwerden, hieß es." Durch Gussejnows Abgang mögen weitere Konsequenzen für die Uni zunächst ausgeblieben sein. Ende letzten Jahres wurde jedoch auch Kusminows Petersburger Kollege geschasst.

Schweigende Mehrheit

Wie das Gros der Studierenden auf die Entwicklungen blickt, ist unklar. Diejenigen, die ihre Unzufriedenheit mit Protestaktionen ausdrücken, sind in der Minderzahl. Doch es gibt kaum Wege festzustellen, ob das Stillschweigen der anderen ein Ausdruck von erfolgreicher Repression oder Zustimmung ist. HSE-Student Salman zeichnet ein geteiltes Bild der Stimmungslage: Es gebe viele mit liberalen Haltungen. "Gleichzeitig nehmen manche auch eine unterstützende Haltung ein oder sagen, dass sie in der Sache neutral seien." Ob das dem Selbstschutz dient, kann er nicht sagen.

Alexandra kann das Vorgehen ihrer Uni, der Nowosibirsker Staatlichen Universität, auf der ein Student vorübergehend wegen Aufhängens einer Ukraine-Flagge im Wohnheim verhaftet wurde, gar nachvollziehen. Sie spricht von einem Drahtseilakt: Das Rektorat versuche dem Ideal der "Universität außerhalb der Politik", auf das sich viele russische Unis berufen, treu zu bleiben. Auf Unterstützungsaktionen der staatlichen Linie wie die "Z-Flashmobs", die an einigen Unis stattfanden, erstreckt sich dies freilich nicht.

Vor gerade diesen graut aber auch manchen Studierenden. "Ich sehe viele Nachrichten darüber, dass Studierende anderer Universitäten irgendetwas auf die Beine stellen, um Putin zu unterstützen, Vorlesungen abgehalten werden, in denen Märchen über die Geschehnisse in der Ukraine erzählt werden, Propagandamaterial verteilt wird", erzählt Natascha (Name geändert), die an der Petersburger HSE studiert. "Ich hoffe einfach, dass es so etwas bei uns nicht geben wird. Ich will mir nicht vorstellen, dass uns mein Betreuer in Zukunft zu solchen Dingen auffordern könnte." (Thomas Fritz Maier, Flora Mory, Philip Pramer, Katharina Tönsmann, 11.5.2022)