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Amber Heard (links) sieht sich nach ihren Vorwürfen von häuslicher Gewalt durch ihren Ex-Partner Johnny Depp (rechts) mit einer Verleumdungsklage konfrontiert. Der Ausgang ist höchst ungewiss.

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Die Möglichkeit, Prozesse öffentlich zu verfolgen, ist seit der Antike ein wichtiges Merkmal demokratischer Gerichtsbarkeit. Transparenz soll dafür sorgen, dass Urteile von der Allgemeinheit nachvollzogen und auch kritisiert werden können. Die Debatte darüber, wie weit diese Offenheit gehen soll, ist aber spätestens seit dem Bewegtbildzeitalter gerade in den USA eine kontroversielle.

Heute erlauben alle 50 US-Bundesstaaten prinzipiell TV-Kameras in ihren Gerichtssälen, einige legen das sehr liberal aus bis hin zur Komplettübertragung, andere erlauben es nur sehr eingeschränkt. Die europäische Auffassung von Prozessöffentlichkeit ist zurückhaltender – in Österreich etwa herrscht während einer Verhandlung prinzipiell ein Verbot jeder audiovisuellen Aufzeichnung oder Übertragung.

Der aktuell in epischer Breite vor der versammelten Weltöffentlichkeit im Livestream übertragene Zivilprozess zwischen den Hollywoodstars und Ex-Ehepartnern Johnny Depp und Amber Heard muss aus europäischer Perspektive also eher verstören. Bis in die intimsten Details werden hier die Szenen einer Ehe – sie dauerte amtlich von 2015 bis zur Scheidung 2017 – ausgebreitet. Das Gericht in Virginia ließ die Liveübertragung zu, aktuell scheint von der auf sechs Wochen angelegten öffentlichen Schlammschlacht Depp mehr zu profitieren als Heard.

Verleumdung oder nicht?

Die Vorgeschichte des Prozesses geht auf die Scheidung des Paars im Jahr 2016 zurück, die von Vorwürfen Heards gegenüber Depp wegen häuslicher Gewalt begleitet war. Depp bestreitet das bis heute, man einigte sich auf eine Abfindung, der Superstar zahlte sieben Millionen Dollar an Heard. Als diese ihre Vorwürfe jedoch 2018 indirekt in der Washington Post wiederholte, ging es mit der Karriere Johnny Depps bergab, u. a. wurde er aus der Fluch der Karibik-Reihe gestrichen.

Wegen Verleumdung verklagte Depp daraufhin Heard auf 50 Millionen Dollar Schadenersatz, sie klagte wiederum ihn auf 100 Millionen Dollar. Es kam zum Showdown.

Im Prozess scheint sich nun das Bild einer Beziehung herauszukristallisieren, die Beobachtende im wahrsten Sinne als toxisch beschreiben: Vorwürfe, Teilgeständnisse und Dementis bezüglich häuslicher Gewalt gibt es nun auf beiden Seiten; Alkohol, Drogen, psychische Probleme spielten eine zentrale Rolle – beide, so scheint es, kämpften mit ihren eigenen inneren Dämonen, eindeutige Täter-Opfer-Zuschreibung gibt es bislang keine.

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Das Bezirksgericht Fairfax im US-Bundesstaat Virginia ist Schauplatz des aufsehenerregendsten Gerichtsspektakels seit O. J. Simpson. Es geht nicht um Mord, und doch wird die mediale Liveberichterstattung exzessiv betrieben.
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Klar ist: Die Weltöffentlichkeit kann von dem nahe an der Grenze zur Sozialpornografie stattfindenden Livespektakel gar nicht genug bekommen. Warum dem so ist, mag an mehreren Dingen liegen: Da ist ein Reality-Soap-Anteil mit den bekannten Zutaten Sensationslust und Fremdschämen; da ist der beiderseitige Fantum-Aktivismus im Netz, ein Phänomen, das als "Stan-Culture" (ein Kofferwort aus Stalker und Fan) bekannt ist; da ist das heimliche Bedürfnis, dass die Stars jene Scharmützel, die Normalos für gewöhnlich im Stillen austragen, stellvertretend für diese auf offener Bühne vorexerzieren; und da ist das Element des "True Crime" – die in den letzten Jahren ungemein populär gewordene Liveaufbereitung und Nacherzählung realer Kriminalfälle in Form von Podcasts und Co, wo an einer "Lösung" des Falls in Echtzeit mitgewirkt werden kann.

O. J. Simpson lässt grüßen

Als Medienspektakel, hinter dem sich die ganze USA versammelt, erinnert der Prozess an die legendäre Mordanklage gegen den Footballstar und Schauspieler O. J. Simpson von 1995, die mit einem umstrittenen Freispruch endete. Dass schon damals die halbe Welt über diesen Prozess sprach, belegt die Anekdote, wonach der damalige russische Präsident Boris Jelzin bei seinem Besuch in den USA Präsident Clinton mit den Worten begrüßte: "Glauben Sie, dass O. J. es getan hat?"

Schon damals gab es kritische Stimmen, dass kamerageschulte Personen vor Gericht durch eine vollumfängliche TV-Übertragung ihr schauspielerisches Talent manipulativ einsetzen könnten – im Fall von Depp/Heard liefe das auf einen Showdown hinaus, wer die glaubwürdigere "Performance" im Zeugenstand abgibt. Das mag rechtlich bedenklich sein.

Moralisch abzulehnen ist die Beziehungsaufarbeitung via Livestream wohl aber schon allein deswegen, da in dem mit intimen Details gespickten Prozess jeder Funke an Restwürde der derart gläsern zur Schau Gestellten verlorengeht. Undenkbar wäre das in den meisten europäischen Rechtssystemen – noch, denn es gibt auch hier in letzter Zeit Liberalisierungstendenzen bei der Frage von Liveübertragung und Kameras bei Gericht.

Warnung für Filmbranche

In einem Punkt leistet die maximale Transparenz aber einen guten Dienst an der Gesellschaft: Sollte sich das differenzierte Bild einer beiderseitig verschuldeten Beziehungszerrüttung bestätigen, wäre die Vorverurteilung, die Johnny Depp spätestens ab 2018 traf und ihn Rollenangebote für zweistellige Millionenbeträge gekostet haben soll, nicht nur zu revidieren, sondern auch als Warnung für eine Branche zu verstehen, die Schnellschüssen und Überreaktionen nicht abgeneigt ist.

Urteilen wird glücklicherweise das Gericht, nicht das Internet. Und es sollte wohl ein belastbareres Urteil werden als damals bei O. J. Simpson – denn das war kein Ruhmesblatt für die Gerichtsbarkeit. (Stefan Weiss, 7.5.2022)