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Sophie Karmasin, Meinungsforscherin und ehemalige ÖVP-Familienministerin, mit Sebastian Kurz (ÖVP), "Global Strategist" und ehemaliger Kanzler.

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Sie begann mit Umfragen, und sie endete mit einer Umfragenaffäre: Die Ära Kurz war von der Demoskopie geprägt. Politik hat der junge Ex-Kanzler mit Meinungsumfragen gemacht und durch Meinungsumfragen entwickelt. Dieser Bauteil der türkisen Maschinerie war so wichtig, dass mutmaßlich rote Linien überschritten wurden. Vertraute von Sebastian Kurz platzierten Umfrageergebnisse in der Tageszeitung Österreich, um gegen den damaligen Parteiobmann Reinhold Mitterlehner (ÖVP) zu "zündeln", wie sie es selbst in Chats nannten. Die Türkisen ließen aber auch ganz konkrete Themen abfragen, um die Meinung der Wählerschaft in die Entwicklung des eigenen Standpunkts einfließen zu lassen.

Der Einfluss der Demoskopen

Was an der Causa Beinschab so unglaublich ist, sind die Methoden. Es steht der Verdacht im Raum, dass Scheinrechnungen gestellt wurden, um parteipolitisch nützliche Umfragen zu finanzieren – mit Steuergeld aus dem Finanzministerium. Mit der Österreich-Gruppe hatten die türkisen Akteure einen Inseratendeal abgeschlossen. Die WKStA vermutet: Es wurde positive Berichterstattung samt Umfragen gekauft. Die meisten Beteiligten bestreiten das, es gilt die Unschuldsvermutung.

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Aber ganz abseits der strafrechtlichen Relevanz wirft die Affäre prinzipielle Fragen auf: Was macht das mit der Demokratie, wenn Demoskopen zu so wichtigen Beratern werden? "Der Einfluss von Umfragen auf die Politik ist enorm", sagt ein ehemaliger Spitzenpolitiker. "Und durch das ständige Abfragen von Stimmungen verliert man jede Form der eigenständigen Politikfähigkeit", urteilt er. Dabei könnte man das auch anders sehen. "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", heißt es in der Verfassung. Wäre es demnach nicht erstrebenswert, die Stimmung im Volk zu erheben und daraus Schlüsse zu ziehen?

Der Politikberater Thomas Hofer hat einen differenzierten Blick auf die Demoskopie: Umfragen könnten im Politbetrieb ein nützliches und völlig legitimes Mittel sein. "Wenn Parteien allerdings nur noch auf Umfragen schielen, befinden wir uns auf dem Weg von der Demokratie in die Emokratie – in der nur noch Emotionen und Stimmungen zählen", sagt er. Und die Stimmung in der Bevölkerung, das wisse man, sei oft volatil.

SPÖ-Kommunikationschef Stefan Hirsch geht offen mit dem Thema um: "Natürlich lassen wir regelmäßig Umfragen erstellen und geben Studien in Auftrag", sagt er. "Es gibt keine Partei, die diese Instrumente nicht für die strategische politische Arbeit nutzt. Wer etwas anderes behauptet, sagt die Unwahrheit." Hirsch hält Umfragen für einen "zusätzlichen objektiven Seismografen", um herauszufinden, wie die Bevölkerung zu Themen stehe. "Wir richten unsere Politik nicht nach Umfragen aus, aber sie sind für professionelle Kommunikationsarbeit einfach notwendig", ist Hirsch überzeugt.

Aber warum eigentlich? Hofer wie auch Hirsch sagen: Es gehe definitiv nicht nur um die sogenannte Sonntagsfrage, also die Abfrage, welcher Partei Menschen gerade ihre Stimme geben würden. Die Sonntagsfrage bekomme medial oft die meiste Aufmerksamkeit, es gebe aber viel mehr, das abgefragt werde. "Man kann etwa abtesten, welche Erzählung und welche Signalwörter in der eigenen Zielgruppe am besten ankommen", erklärt der Politikberater Hofer, der selbst keine Umfragen erstellt. Eine andere Möglichkeit ist, die Stimmungslage in Bezug auf verschiedene Themen zielgruppengenau analysieren zu lassen.

Bislang wurde in Österreich erst zwei Mal eine Volksabstimmung durchgeführt. 1978 haben die Österreicherinnen und Österreicher knapp gegen die Nutzung von Atomenergie gestimmt; 1994 hat sich die Bevölkerung deutlich für den EU-Beitritt ausgesprochen. Nur einen "empfehlenden Charakter" haben hingegen Volksbefragungen. Eine solche gab es 2013 zum Thema Wehrpflicht.

Direkte Demokratie

Die direkte Demokratie steht in Österreich also nicht besonders hoch im Kurs. Das mag auch an der Geschichte des Landes liegen: Ständestaat und Nationalsozialismus haben gezeigt, wie leicht sich die Bevölkerung verführen lässt. Starke Kontrollinstrumente, eine Stärkung des Föderalismus und die Sozialpartnerschaft sollten verhindern, dass Österreich wieder zu einer Diktatur wird.

Spätestens Anfang der 2010er-Jahre wurde der Wert von Daten im politischen Betrieb erkannt. "Umfragen können für die politische Arbeit hilfreich sein, wenn man etwa wissen möchte, wer geeignete Kommunikatorinnen und Kommunikatoren für eine Impfkampagne wären", sagt Hofer. Als Tool für Parteiarbeit seien Erhebungen unproblematisch, solange sie auch auf Parteikosten gemacht würden. "Was aus den ÖVP-Chats hervorgeht, ist allerdings dramatisch über der Grenze, ich hätte das so gar nicht für möglich gehalten."

Der Mitläufereffekt

Die Ermittlungen in der Causa Beinschab geben erstmals einen schonungslosen Einblick, wie es offenbar auch ablaufen kann. Zentral in der Causa sind die Meinungsforscherin und einstige ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin sowie ihre frühere Assistentin Sabine Beinschab. Bereits in den frühen 2010er-Jahren habe Karmasin mit der SPÖ und der Tageszeitung Heute Umfragenpolitik betrieben, behauptete Beinschab in ihrer Einvernahme. Es sei darum gegangen, die SPÖ möglichst gut in der Sonntagsfrage darzustellen. Aber was erhoffen sich die Parteien davon?

Wählerinnen und Wähler entscheiden sich oft für jene Kandidaten, denen sie einen Wahlsieg am ehesten zutrauen: Man will auf der Gewinnerseite stehen. Aber auch innerparteilich sind gute Umfragen wertvoll: Die Parteiführung wird gestärkt. Umgekehrt kann man Parteichefs mit schlechten Umfragewerten leichter absägen – so passiert durch das Team Kurz 2017. Später erstellte vor allem der von der ÖVP selbst bezahlte Meinungsforscher Franz Sommer Umfragen für Kurz. "Er ist nahezu durchgehend im Feld – abgefragt wird de facto alles, die Ergebnisse der Umfragen hält der innerste Kurz-Zirkel geheim", schreibt der Journalist Klaus Knittelfelder in Inside Türkis. Zwei zentrale Maßnahmen der türkis-blauen Koalition – die später gekippte Kürzung der Sozialhilfe für Ausländer sowie härtere Strafen für Sexualstraftäter – seien auch aufgrund der hohen Zustimmung dazu in Umfragen umgesetzt worden.

"Call me Mr. Umfrage", schlug der Kurz-Vertraute Thomas Schmid dem Altkanzler einst vor – so will in Zukunft wohl niemand mehr genannt werden. Auf Umfragen selbst will der Politbetrieb aber nicht verzichten. (Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 7.5.2022)