Die erzkonservativen US-Höchstrichter, die dabei sind, Millionen von Amerikanerinnen den Zugang zu Abtreibungen zu verwehren, haben in einem Punkt recht: Das Grundsatzurteil Roe vs. Wade aus dem Jahr 1973, das bald Geschichte sein dürfte, war keine gute Entscheidung.

Der Versuch, aus einer 200 Jahre alten Verfassung ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche herauszulesen, war juristisch schlampig argumentiert. Die Frist von 24 Wochen für uneingeschränkte Eingriffe ist deutlich länger als jene in Österreich und anderen EU-Staaten. Es war damals und ist bis heute eine radikale Position. Die Richter übergingen die gewählten Volksvertretungen, die anderswo über die Abtreibungsgesetze entscheiden und dabei meist Mittelwege zwischen widersprüchlichen ethischen Prinzipien wählen.

Demonstrierende vor dem US Supreme Court in Washington.
Foto: APA/AFP/JIM WATSON

Das schlimmste an Roe vs. Wade aber war, dass es so viel zur Mobilisierung der christlichen Wählerinnen und Wähler beigetragen hat, die bis dahin eher unpolitisch waren, und so die gesamte Politik der USA nach rechts rücken ließ. Kein anderes Thema hat Kirchgänger so empört und Futter für Wahlkämpfe geboten, aus denen immer extremere Kandidaten siegreich hervorgingen. Ohne den machtvollen Schlachtruf "Pro Life" hätte es vielleicht auch keine Trump-Präsidentschaft gegeben und damit keine Dominanz der Rechten im Supreme Court, der in den kommenden Jahren auch andere gesellschaftliche Fortschritte rückgängig machen könnte.

Aufgeheizte Stimmung

Das Ende von Roe vs. Wade könnte zwar jetzt einen gegenteiligen Effekt auslösen, der den Demokraten nützt. Allerdings sind die Bundesstaaten, in denen die Empörung am größten ist, vom erwarteten Richterspruch am wenigsten betroffen. Denn jeder Staat wird dann selbst entscheiden dürfen, wie er Abtreibung regelt. Eine bundesweite Norm hat wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse in Washington keine Chance.

Angesichts der aufgeheizten Stimmung ist zu erwarten, dass im Süden und Mittleren Westen zunächst extrem restriktive Regelungen verabschiedet werden, so etwa Verbote auch bei Vergewaltigung und Inzest bis hin zu Mordanklagen gegen abtreibende Frauen. Es wird dann viele Jahre dauern, bis Berichte über tragische Einzelschicksale die ideologischen Schablonen aus der öffentlichen Debatte verdrängen und auch in konservativen Bundesstaaten den Boden für Kompromissbereitschaft schaffen werden. Hätte der Gerichtshof vor 50 Jahren ein weniger weitreichendes Urteil gefällt, wären die USA heute möglicherweise schon weiter.

Die Lehre daraus ist, dass es riskant ist, wenn linksliberale Kräfte für umstrittene Reformen eine Abkürzung über die Höchstgerichte suchen. Das ist zuletzt auch in Österreich geschehen, wo der Verfassungsgerichtshof und nicht der Nationalrat die Ehe für alle, das Recht auf ein drittes Geschlecht und die Sterbehilfe durchgesetzt hat. Das waren alles vernünftige Entscheidungen, die zum Glück keinen Kulturkampf ausgelöst haben. Aber grundsätzlich sollten Parlamente solche Weichenstellungen vornehmen – auch wenn es etwas länger dauert. (Eric Frey, 6.5.2022)