Der Samstag stand ganz im Zeichen der Evakuierungsmission aus dem Stahlwerk in Mariupol.

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Mariupol – Nach der Evakuierung der letzten Zivilisten aus dem von russischen Truppen belagerten Stahlwerk Asowstal in der Hafenstadt Mariupol haben die dort verschanzten ukrainischen Kämpfer einen eindringlichen Hilferuf gesendet. Er könne nur noch auf ein Wunder hoffen, schrieb der Kommandant der 36. Marineinfanteriebrigade, Serhij Wolynskyj, am Samstag bei Facebook. "Darauf, dass höhere Kräfte eine Lösung für unsere Rettung finden!"

Ukraine hofft auf Befreiung aller

Zuvor waren offiziellen Angaben zufolge die letzten Frauen, Kinder und älteren Menschen aus dem Stahlwerk evakuiert worden. "Dieser Teil der humanitären Operation in Mariupol ist abgeschlossen", schrieb die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Samstag im Nachrichtendienst Telegram. Ob unter den verbliebenen Männern noch Zivilisten sind, ließ sie zunächst offen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab die Hoffnung auf eine Befreiung der Kämpfer nicht auf. Er sagte am Samstagabend, dass mehr als 300 Zivilisten "in der ersten Phase" der Evakuierungen gerettet worden seien. In der zweiten Phase sollen nun auch die Verwundeten und Sanitäter aus dem Stahlwerk gebracht werden. Man bemühe sich auch darum, die Kämpfer aus dem Gelände zu bringen, "aber das ist äußerst schwierig". Selenskyj hatte mehrmals mit einem kompletten Abbruch der diplomatischen Gespräche mit Russland gedroht, sollte dieses ein Massaker auf dem Gelände anrichten.

Auch die russische Seite sprach am Samstagabend davon, dass die Evakuierung von Zivilisten abgeschlossen sei. Am Samstag sei nur noch ein einziger Mensch übrig gewesen, der nun auch in Sicherheit sei, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. Unklar war jedoch, wie viele Zivilisten noch in anderen Teilen der Stadt ausharren.

Die jüngste Evakuierungsmission kam mit Hilfe der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zustande. Russlands Militär hatte dafür seit Donnerstag jeden Tag mehrstündige Feuerpausen in der völlig zerstörten Stadt am Asowschen Meer zugesichert. Die letzte sollte am Samstagabend enden.

Nicht ergeben

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am 21. April den Sieg seiner Armee über Mariupol erklärt und eine Abriegelung des von ukrainischen Kämpfern gehaltenen Asowstal-Geländes erklärt. Die Verteidiger hatten es abgelehnt, sich zu ergeben. In der Ukraine wird befürchtet, die russischen Streitkräfte könnten bis zum Montag zu einem Vernichtungsschlag gegen sie ausholen, um Putin pünktlich zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg einen militärischen Erfolg zu verkünden. Der 9. Mai wird seit Sowjetzeiten in Moskau mit einer großen Militärparade begangen.

Russland verschärfte seinen Ton gegenüber den USA, die wie ihre Nato-Verbündeten die Ukraine unter anderem mit Waffen unterstützen. Der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin bezichtigte die USA einer unmittelbaren Kriegsbeteiligung. "Washington koordiniert und entwickelt wesentlich militärische Operationen und beteiligt sich damit unmittelbar an Militäraktionen gegen unser Land", erklärte der Duma-Vorsitzende. Die USA und ihre Verbündeten hatten erklärt, sie betrachteten sich nicht als Kriegspartei.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief den Westen zu weiteren Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine auf. "Die Ukraine benötigt dringend weitere schwere Waffen, der Westen sollte seine Lieferungen intensivieren, noch mehr tun und sich auf ein langfristiges Engagement vorbereiten", sagte er der "Welt am Sonntag". Die Ukraine müsse sich auf einen "langen Krieg" mit Russland über Monate oder Jahre einstellen.

Russische Angriffe auf Fluggeräte

Russische Truppen waren am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert. Inzwischen haben die russischen Bombardierungen mehrere Städte verwüstet. Tausende Zivilisten starben, Millionen sind auf der Flucht. Die Regierung in Moskau bezeichnet die Invasion der Ukraine als "militärische Spezialoperation". Westliche Staaten sprechen von einem Angriffskrieg und Verbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.

Russland setzte seine Angriffe nach eigenen Angaben am Samstag fort und zerstörte ein großes Lager mit militärischem Gerät aus Europa und den USA. Das Lager habe sich in der Nähe des Bahnhofs Bohoduchiw in der Region Charkiw befunden, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. In der Nacht seien 18 ukrainische Militäreinrichtungen getroffen worden, darunter drei nahe der südukrainischen Hafenstadt Odessa. Auch in der Stadt selbst schlugen nach Angaben der Regionalverwaltung mehrere Raketen ein.

Am Abend berichtete die russische Armee, Hochpräzisionsraketen hätten auf den Flughäfen in den Regionen Arzis, Odessa und Wosnessenk ukrainisches Fluggerät zerstört. Explosionen – teils von der Luftabwehr – wurden auch aus dem benachbarten Gebiet Mykolajiw, dem zentralukrainischen Poltawa und dem westukrainischen Chmelnyzkyj gemeldet. Bei einem Angriff auf das grenznahe nordostukrainische Gebiet Sumy sei bei einem Luftangriff mindestens ein Mensch verletzt worden. (APA, 7.5.2022)