Sibylle Berg beobachtet von ihrer schönen Wahlheimat Schweiz aus die Welt beim Untergehen. Politik, Wirtschaft, Kirche, Tech-Milliardäre – alle kommen schlecht weg.

Foto: Katharina Lütscher

Entweder ist Sibylle Berg ein totaler Nerd oder zukunftsfitter als alle anderen. GRM lautete der Titel ihres letzten Romans, RCE heißt dessen Fortsetzung. RCE steht für "RemoteCodeExecution", es handelt sich dabei um eine Cyberattacke von Hackern. In RCE wollen fünf Hacker die Welt retten. Denn in einer nahen Zukunft essen abgehängte Klassen minderwertige Fertiggerichte von Nestlé und werden in auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Krankenhäusern miserabel behandelt, wenn sie nicht überhaupt nur Do-it-yourself-OP-Sets in ihre Work-Sleep-Places geschickt bekommen. Die Menschen sind zu sehr von Social Media und ihrer Armut abgelenkt, um zu revoltieren. Dazu geht es in RCE um Flüchtlinge, Klimakrise, eine von unfähigen Politikern und Lobbyisten gelenkte EU, die zur Müllkippe Chinas geworden ist. Wasser wird an der Börse gehandelt.

STANDARD: Unsere Welt ist bei Ihnen wieder ganz schön kaputt ...

Berg: Das klingt ja nach: Und wo ist die Neuigkeit? Wo bleibt der Spaß?

STANDARD: Auf der Weltuntergangsskala von eins bis zehn, wo stehen wir?

Berg: Dass etwas nicht stimmt im Weltgefüge, spüren doch fast alle. Ich versuche, größenwahnsinnig und unter vollem Respekt vor allen Erkenntnissen der Komplexitätsforschung, einige konkrete Ursachen für das immer schnellere Aufeinanderfolgen von Katastrophen auf der Welt zu benennen. Zwischen 9/11, Überwachungsgesetzen, dem Erstarken autokratischer Regierungen und Digitalisierung ist eine traumatisierte Gesellschaft entstanden, die nicht in der Lage war, allen Randnotizen wie Finanzskandalen und Verbrechen an den Ökosystemen Aufmerksamkeit zu schenken. Ich setze dieser Ohnmacht reizende Weltretter:innen entgegen, die in einer Utopie denken. Etwas, das uns allen fehlt. Ich habe die Frage vergessen.

STANDARD: Welches ist das letzte gute Jahr, in dem es noch Hoffnung gab?

Berg: Hoffnung war noch nie meine Kernkompetenz. Auch wenn ich, wie alle, elementar nur an dem leide, was mein Leben betrifft, wollte ich immer auch den großen Teil der Welt verstehen, der nicht mein Zuhause ist. Da gab es doch nie eine Zeit ohne Betrug, Hass, Kriege, Bereicherung, Massaker, Naturkatastrophen. Vom Jugoslawienkrieg über Ruanda und Tschernobyl zu Monsanto und zurück fällt mir kein unbeschwertes Jahr ein. Aber mit Humor wird schon wieder erträglich, dass wird nicht die Endstufe der Evolution sind.

STANDARD: Der Mensch gewöhnt sich an alles. Ist das Segen oder Fluch?

Berg: Beides. Vermutlich wäre die Spezies, ohne sich zu belügen, schon längst ausgestorben. Weitermachen funktioniert nicht in hoffnungsloser Erkenntnis, dass die Welt, wie wir sie uns erträumen, aufgehört hat zu existieren. Oder eben nie existiert hat. Das latente Desinteresse vieler für alles, was außerhalb ihrer Keimzelle passiert, ist also evolutionär notwendig. Am Ende geht es immer um die Vermeidung von Schmerz und Tod im eigenen Sein. Der Rest ist Gewohnheit.

STANDARD: "RCE" ist voll mit realen Personen und Technologien, von denen man als durchschnittlich interessierter Bürger mal mehr, mal weniger gehört hat. Haben Sie überhaupt irgendetwas Dystopisches dazuerfinden müssen?

Berg: Dystopie ist nur der Begriff für alles, was wir von uns fernhalten wollen. Die utopischste Erfindung ist vermutlich, dass eine Gruppe Tech-Nerds sich auf eine gemeinsame Aktion einigen kann. Und dass etwas wie ein gesamteuropäisches Klassenbewusstsein entsteht.

STANDARD: Warum klappt das in echt nicht?

Berg: Leider scheint es im Überlebensdrang der Menschen nicht implementiert. Es wäre ein Fest, wenn sich die Mehrheit tatsächlich als große Klasse der Ausgebeuteten begriffe, es eine Solidarität gäbe.

STANDARD: Seit Corona ist noch mehr von Spaltung die Rede ...

Berg: Seit spürbar wird, dass die Legende des unendlichen Wachstums nur eine sehr kurze Zeit lang funktioniert hat und ihren Zenit überschritten hat, seit die meisten merken, dass das beste aller Systeme, das nur Wachstum oder Krise als Arbeitsmodi kennt, uns um die Ohren fliegt, ist es mithilfe des WWW dazu gekommen, dass die Menschen auf den Meteoriteneinschlag warten, in den Himmel schauen und einander anschreien, schuld an der Meteoritenbahn zu sein. Das Hirn kommt mit der Komplexität der Welt, von der es nur Überschriften wahrnimmt, nicht zurecht. Skandale um Politiker:innen und Kapitalist:innen haben Glaubwürdigkeit zerstört, der Einzelne fühlt sich machtlos. Was er auch ist.

STANDARD: Was dagegen tun?

Berg: Das wirksamste Mittel gegen Misstrauen und Verabschiedung der Einzelnen in Rabbit-Holes sind eine starke Bildung, die sehr viel breiter gefasste demokratische Beteiligung des Einzelnen an Entscheidungen und eine absolute Transparenz. Ein Grundpfeiler der Demokratie ist der Austausch. Aus Gründen, die etwa mit der Entsolidarisierung und der Überlebenspanik in Dauerkrisen zu tun haben, haben sich Gemeinschaften aber zerstritten und sind Solidargemeinschaften damit beschäftigt, den an sie ausgelagerten Aufgaben des Staates nachzukommen. Ich hoffe, dass Volksvertreter:innen aus diesen Fehlern gelernt haben. Kurz gesagt: Den Ausweg aus unserer Panik und ein wenig Hoffnung, dass die Welt rettbar ist, habe ich auf 700 Seiten runtergeschrieben. Ich vermute einmal, in Österreich wurde nach Corona sehr viel Geld in die Gesundheitswesen investiert, in Ausbildung und die bessere Bezahlung von dort Tätigen.

STANDARD: Wenn, dann gab es schöne Worte ...

Berg: Ein guter Satz, den jede bei allem wiederholen sollte: Ich weiß zu wenig. Da wäre schon viel gewonnen.

STANDARD: "Daran, dass ein Mensch – theoretisch – nicht nur Pflichten hatte, dachte keiner mehr", schreiben Sie in "RCE". Welches Menschenbild liegt der Gesellschaft heute zugrunde?

Berg: Vermutlich befinden wir uns in der Auslaufphase des kapitalistischen Menschenbildes. Was die meisten vom Kindergarten an erlebt haben, ist Wettbewerb. Der spätkapitalistische Mensch hat gelernt, Verlierer zu verachten und sich an Milliardären zu orientieren. Die beste Verschwörungserzählung (habe ich das blöde Wort endlich genutzt) ist, dass es jeder kraft seiner Arbeit ganz nach oben schaffen kann. Was Quatsch ist. Um Kapital anzuhäufen, braucht es mehr als einen Karriereplan und einen Ted Talk als Spotify-Mitarbeiterin des Monats. Etwa Startkapital, Gesundheit, die richtige Herkunft und Hautfarbe.

STANDARD: Was kommt danach?

Berg: Die Menschen taugen in Zeiten zunehmender Verelendung und Rohstoffknappheit nicht mehr zum Konsum, das Kapital weniger Konzerne und Forbes-Listen-Anführender wird durch Finanzprodukte ohne Arbeitnehmer vermehrt. Neben Kapitaleignern gibt es Menschen mit Programmierfähigkeiten und solche ohne, die es zu nichts mehr benötigt, als durch ihr elendes Leben Arbeitnehmer:innen daran zu erinnern, sich ruhig zu verhalten.

STANDARD: Wird das Internet die Welt jemals demokratischer, besser machen?

Berg: Ohne zu tief in die Funktion von KI und Algorithmen einzutauchen: Das jetzige WWW ist darauf ausgerichtet, zu überfordern. Solange es ein privatisierter Raum ist, der wenigen gehört, wird es sich weiter vom Traum des Menschen verbindenden Experiments entfernen. Ich glaube, jetzt muss ich aber skippen, es ist eh schon zu lang, oder?

STANDARD: Wäre eine von Frauen regierte Welt besser? Oder ist es ein sexistisches Klischee?

Berg: Es gibt einfach zu wenige erhebbare Daten, um einen Schluss ziehen zu können. Ich würde sie erst einmal, wie alle Minderheiten, fair in politische Prozesse einbezogen sehen wollen, um dann eventuell zum Schluss zu kommen, dass Unfähigkeit oder Fähigkeit geschlechter- und genderunabhängig sind. Ich glaube aber, wir Menschen sind nicht für dauerndes Glück eingerichtet. Vermutlich ist der Anspruch drauf eine Erfindung der PR. (Michael Wurmitzer, 10.5.2022)