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Michelle O'Neill hat sich nach oben gekämpft.

Foto: Reuters / JASON CAIRNDUFF

Der Weg für Michelle O’Neill an die Spitze der nordirischen Regierung war wahrlich nicht vorgezeichnet. Geboren 1977 inmitten der Krisenregion, wuchs Michelle unter ihrem Mädchennamen Doris während Nordirlands Unruhen auf. Der Nachname Doris stand für republikanische Tradition: Ihr Vater Brendan saß als Mitglied der bewaffneten IRA in Haft, ihr Onkel Paul leitete die nordamerikanische Organisation Noraid, die Spenden für den Kampf gegen die Unionisten sammelte. Zwei ihrer IRA-Cousins wurden von Sicherheitsleuten angeschossen, einer starb an seinen Verletzungen.

Und Michelle kämpfte ebenfalls – bloß nicht mit Waffen für ein vereinigtes Irland, sondern als alleinerziehende Teenagermutter für einen Schulabschluss. Mit 16 Jahren wurde sie mit ihrer Tochter Saoirse schwanger. Das Lehrpersonal an ihrer katholischen Schule zeigte wenig Verständnis für die Situation der jungen Mutter und noch weniger Unterstützung. Doch dieser Kampf habe sie zu der starken Frau gemacht, die sie heute sei, erinnert sich O’Neill in Zeitungsinterviews.

Lehre für Politik abgebrochen

Mit dem Karfreitagsabkommen 1998 ruhten nicht nur die Waffen, sondern auch O’Neills klassischer Ausbildungsweg. Eine nach ihrem Schulabschluss begonnene Buchhaltungslehre brach die junge Frau ab, um Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA, beizutreten. Nach dem Rücktritt ihres Vaters aus dem Gemeinderat von Dungannon wurde sie 2005 auf seinen Sitz gewählt, wurde danach sogar Bürgermeisterin – die erste Frau in dem Amt.

Nach der Parlamentswahl 2007 holte Martin McGuinness sie als Abgeordnete. Damals war O’Neill bereits verheiratet und mit ihrem Sohn schwanger. Als Landwirtschafts- und später Gesundheitsministerin sammelte sie Erfahrung und kletterte die Karriereleiter innerhalb der Partei hinauf.

Als McGuinness 2017 schließlich seinen Posten als Vize-First-Minister aufgrund eines Streits über die Rechte der irischsprechenden Bevölkerung räumte, die Regierung sprengte und das Parlament in eine dreijährige Pattsituation zwang, war es O’Neill, die 2020 mit den Unionisten über die erneute Gewaltenteilung verhandelte. Damals übernahm sie das Amt der Vize-First-Minister – auf dem Papier dem First Minister gleichgestellt, aber mit etwas weniger Prestige. Die absolute Spitze könnte sie nun als First Minister erklimmen, sollten die Unionisten zustimmen. Die 45-Jährige wäre die erste Nationalistin in diesem Amt. (Bianca Blei, 8.5.2022)