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Freude von und mit Sinn-Féin-Kandidatin Michelle O’Neill (Mi.).

Foto: AP / Peter Morrison

Heute beginnt eine neue Ära", freute sich Sinn Féins Vizeparteichefin und Spitzenkandidatin Michelle O’Neill, als sie am Samstag das Ergebnis der Wahlen zum Regionalparlament in Nordirland feierte. Es ist nicht abzustreiten: Ihre Partei konnte einen historischen Wahlsieg einfahren. Zum ersten Mal ist nicht mehr eine protestantische Partei stärkste Kraft in der Provinz, sondern die katholisch-republikanische Sinn Féin, die für ein wiedervereinigtes Irland streitet. Sie errang 27 Sitze, während die protestantisch-unionistische und seit 15 Jahren regierende DUP nur auf 25 Mandate kam.

Damit wäre der Weg frei für eine Ministerpräsidentin O’Neill, die versprochen hatte, inklusiv regieren zu wollen. Doch die Regierungsbildung wird schwierig: DUP-Chef Jeffrey Donaldson sträubt sich. Das nordirische Friedensabkommen von 1998 sieht vor, dass die Macht in Belfast geteilt werden muss: Die beiden größten Parteien der jeweiligen Lager stellen gemeinsam die Exekutive. Für die Unionisten, die die Provinz seit ihrer Abspaltung von Irland vor 101 Jahren dominiert haben, ist der Sinn-Féin-Sieg psychologisch schwierig: Sie fürchten den permanenten Niedergang der unionistischen Sache und die Weichenstellung für die Loslösung der Provinz aus dem Vereinigten Königreich.

Donaldson erklärte, dass er erst dann zur Regierungsbildung bereit sei, wenn das Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags geändert wird. Dieses sieht vor, dass Nordirland im EU-Binnenmarkt verbleibt und es keine harte Grenze auf der irischen Insel zwischen der Provinz und der Republik im Süden gibt. Damit verschob sich die EU-Außengrenze in die Irische See.

Streit um Brexit-Protokoll

Für die Unionisten ist das Protokoll ein Affront, weil es nicht nur den Güterverkehr mit dem Königreich erschwert, sondern im Gegenzug auch den Warenaustausch mit dem EU-Mitglied Irland erleichtert, wo nordirische Importe im letzten Jahr um 64 Prozent gestiegen sind. Die Unionisten fürchten, dass das Protokoll die Loslösung vom Mutterland fördert. Der britische Justizminister Dominic Raab forderte am Sonntag eine "Reparatur" des Protokolls. Das Außenministerium verlangte von Brüssel: "Wir müssen sehen, dass sich die EU erheblich bewegt." In London wird ein Gesetz vorbereitet, das der britischen Regierung erlauben soll, Teile des Protokolls mit der EU aufzuheben.

Zurück nach Belfast: Dort haben die Parteien maximal sechs Monate Zeit für eine Regierungsbildung, danach müsste es zu Neuwahlen kommen. Sinn Féin wird die Unnachgiebigkeit der DUP als Argument nutzen, um für ein Referendum über die Wiedervereinigung Irlands zu werben. Die Partei ist zurzeit nicht nur im Norden im Aufschwung: In der Republik Irland wurde sie schon vor zwei Jahren zur stärksten Kraft und könnte bei den nächsten Wahlen 2025 auch erstmals an die Regierung kommen. Sinn-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald erklärte, dass ein Border-Poll "in einem Zeitrahmen von fünf Jahren möglich ist". Und auch O’Neill freut sich auf "eine sehr gesunde Konversation".

Doch es liegt nicht in deren Entscheidungsgewalt, ein Referendum anzusetzen: Das Friedensabkommen sieht vor, dass der britische Nordirland-Minister eines zulassen muss, sollte sich eine Mehrheit für eine Wiedervereinigung abzeichnen. Zurzeit ist man weit davon entfernt. Bestenfalls ein Drittel der Nordiren würden für ein Ende der Teilung stimmen. (Jochen Wittmann aus London, 8.5.2022)