Der historische Sieg der republikanischen Sinn-Féin-Partei bei der britischen Regionalwahl in Nordirland sorgt in London für Unruhe und Unsicherheit. Populistischen Warnungen vor einer nun angestrebten Wiedervereinigung der irischen Insel und dem angeblichen Bruch des Nordirland-Protokolls im Brexit-Vertrag erteilte EU-Vizepräsident Maroš Šefčovič eine Absage. Die Regierung in London möge bei der Wahrheit bleiben und sich im Tonfall mäßigen. Wichtig sei jetzt, "die Rhetorik zu drosseln, um ehrlich zu dem (auch von der britischen Regierung) unterzeichneten Abkommen zu sein und um Lösungen innerhalb dieses Rahmens zu finden".

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Die Sinn Féin war überraschend deutliche Wahlsiegerin in Nordirland. Das macht die Lage für London reichlich kompliziert.
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Eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls, das unter anderem den Zoll und den Handel zwischen der britischen Provinz im Norden der Insel und der Republik Irland im Süden (ein EU-Mitglied) regelt, stehe nicht zur Disposition, ließ Šefčovič durchklingen: "Die EU hat bereits viel Flexibilität gezeigt, indem sie wirksame und dauerhafte Lösungen vorgeschlagen hat. Und wir sind bereit, die Gespräche fortzusetzen."

Nach Meinung des irischen Premierministers Micheál Martin sei diese von Brüssel demonstrierte Flexibilität in London nicht erwidert worden. Martin hoffe laut dem britischen "Guardian", dass die britische Regierung weiterhin an einer "vernünftigen Lösung" interessiert sei. Die Kollegen in Dublin würden dabei jedenfalls gern behilflich sein: "Die Politik in dieser Angelegenheit ist problematischer als die Lösung der eigentlichen Handelsfragen im Zusammenhang mit dem Protokoll."

Londoner Drohungen

Während des Regionalwahlkampfes hatten der slowakische EU-Kommissar Šefčovič und die britische Außenministerin Liz Truss ihre Gespräche pausiert; sie sollen nun intensiviert fortgesetzt werden. Šefčovič ist im Namen der EU-Kommission für die Umsetzung der Brexit-Vertragselemente zuständig.

Der britische Premier Boris Johnson und der erst seit Februar amtierende britische Brexit-Minister Jacob Rees-Mogg hatten zuletzt mehr oder weniger verklausuliert von "einseitigen Maßnahmen" gesprochen, um das Nordirland-Protokoll im Nachhinein zu "reparieren". Sie sind zuletzt aber von der Drohung abgerückt, neue – britische – Gesetze zu erlassen, um dies zu tun. Auch Justizminister Dominic Raab hatte davon gesprochen, "alle notwendigen Maßnahmen" zu ergreifen, um das Brexit-Protokoll zu ändern.

Der "Guardian" verweist indes auf diplomatische Quellen in Brüssel: Ihnen zufolge müsse und würde es auf jede einseitige Aktion aus London Sanktionen geben.

Problematische Regierungsbildung in Belfast

Nervosität herrscht aber nicht nur wegen möglicher Auswirkungen auf die Handels- und Zollpolitik mit der EU, sondern auch wegen eines Szenarios, an dessen Zielpunkt es eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland geben könnte. Solche Begehrlichkeiten treten nun, nach dem historischen Sieg der Sinn Féin in der Belfaster Provinz, deutlicher zutage als jemals zuvor. Der britische Minister für Nordirland, Brandon Lewis, schloss die Aussicht auf ein solches Referendum über ein vereinigtes Irland am Montag aus.

Stattdessen forderte Lewis eine rasche Regierungsbildung in Belfast. Diese würde aber eine Koalition der Wahlsiegerin mit der unionistischen DUP bedingen – eine schnelle Regierungsbildung ist daher schon rein logisch nicht in Sicht. Nach dem als Karfreitagsabkommen bekannten Friedensschluss von 1998 müssen sich die jeweils stärksten Parteien beider konfessioneller Lager auf eine Einheitsregierung einigen. Die protestantische DUP will einer Einheitsregierung mit der katholischen Sinn Féin nur zustimmen, falls das Nordirland-Protokoll (siehe oben) außer Kraft gesetzt wird. Ein Teufelskreis, so scheint es. (Gianluca Wallisch, 9.5.2022)