Geköpft und umgearbeitet: Das ukrainisch-russische Freundschaftsdenkmal in Kiew ist Geschichte.

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Am Montag rollten russische Panzer nicht nur über die Schlachtfelder der Ukraine, sondern auch über den Roten Platz in Moskau. Wie jedes Jahr am 9. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, hielt der russische Präsident Wladimir Putin die große Militärparade zum Sieg im "Großen vaterländischen Krieg", wie der Kampf gegen Nazideutschland in Russland genannt wird, ab.

Bei seiner Rede vor den strammstehenden Kolonnen wiederholte Putin sein historisches Narrativ, wonach es heute erneut gelte, in der Ukraine gegen den Nazismus vorzugehen. Er versprach einen Sieg "wie 1945" und behauptete, der Westen habe "in der Ukraine eine blutige Neuauflage des Nazismus organisiert. Eine fanatische Imitation des Regimes, seiner Ideen, Handlungen, Worte und Symbole."

Im Westen nimmt man dieses verdrehte Bild so ziemlich andersherum wahr. Nicht wenige sehen beispielsweise im Z-Symbol, das die Russen an ihrem Militärgerät anbringen und das in der breiten Bevölkerung die Kriegsbegeisterung schürt, faschistoide Formensprache. Es bedeutet "Moschem powtorit" ("Wir können es wiederholen") und deutet den 9. Mai ganz nach Putins Geschmack angriffig.

Missbrauchte Trauer

In seiner 20-jährigen Amtszeit wurde der Tag der Befreiung vom NS-Faschismus zum mit Abstand wichtigsten Feiertag Russlands stilisiert. Dabei wurde nicht nur der schätzungsweise 24 Millionen toten Menschen aus der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg gedacht, sondern zunehmend auch die militärische Omnipotenz und Einsatzbereitschaft von Putins Russland hervorgekehrt. Von einem "Missbrauch der Trauer" schrieb dieser Tage die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Impression der diesjährigen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau: Der 9. Mai wurde unter Putin zum höchsten Staatsfeiertag erklärt und entsprechend inszeniert.
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In der Ukraine, gerade aber auch in jenen Ländern, die von der Sowjetarmee 1945 mitbefreit wurden, führt Putins Feldzug zu heftigen Irritationen in der Gedenkkultur. Deutlich wird das am Umgang mit sowjetischen Sieges- und Kriegerdenkmälern. So beschmierten ukrainische Protestierende das russische Ehrenmal im Berliner Treptower Park selbst mit dem Z-Symbol und der Parole "Ukrainian Blood on Russian Hands". Bei Gedenkveranstaltungen zum 9. Mai waren sowohl russische wie auch ukrainische Symbole verboten, um eine Instrumentalisierung des Tages zu unterbinden. Mehrfach musste die Polizei ukrainische Flaggen entfernen.

Politikern gelingt die Gratwanderung

Den politischen Akteuren, die dieser Tage Reden hielten, gelang die Gratwanderung, die NS-Verbrechen angesichts der russischen Aggression nicht durch ungebührende Vergleiche zu verharmlosen und damit der Putin’schen Erzählung zuzuarbeiten. Die Frage aber, wie mit waffenstarrenden Siegesdenkmälern der Sowjetunion künftig umzugehen sei, wurde dennoch eröffnet.

So forderte eine CDU-Abgeordnete, einen russischen Panzer am Ehrenmal im Berliner Tiergarten als symbolische Geste gegen die aktuelle Aggression zu entfernen. In Dresden, wo ebenfalls zwei Panzer ein sowjetisches Denkmal zieren, forderte ein FDP-Politiker deren Entfernung, "nicht wegen 1945, sondern wegen 1953, 1968 und 2022" – Jahre, in denen die Sowjets bzw. jetzt Putin mit Panzern gegen Bewegungen zur Loslösung von Moskau vorgingen.

Vorahnung im Baltikum

In den baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen und in Polen ist die Demontage sowjetischer Denkmäler schon länger Thema. Das Trauma des stalinistischen Terrors sowie die frühere Okkupation durch das russische Zarenreich überlagert dort die Barbarei der verhältnismäßig kurzen NS-Herrschaft, die vor allem die jüdische Bevölkerung traf. Dass Putin die über Jahre immer weiter gesteigerte Kultivierung des 9. Mai als ideologische Kriegsvorbereitung nutzen könnte, ahnte man früher als anderswo.

Wie relevant historische Narrative in diesem Krieg sind, zeigt sich daran, dass Kiew, noch mitten im Kampf steckend, bereits jetzt rund 60 Gedenkstätten allein in der Stadt entfernen bzw. umgestalten will: Ein 1982 geschaffenes Ensemble riesiger Bronzeskulpturen, das einen ukrainischen und einen russischen Arbeiter brüderlich zeigte, wurde bereits abgerissen. Einzig ein das Ensemble umspannender Regenbogen aus Titan soll bleiben und zum "Bogen für die Freiheit des ukrainischen Volkes" umgewidmet werden.

Regenbogen und Pistole

Sogar der Kiewer Architekt Serhij Myrhorodskyj, der das Denkmal einst schuf, meinte, die Umgestaltung sei "das einzig Richtige", denn es gebe keine Freundschaft mit Russland, "solange Putin und seine Bande in dieser Welt sind". Weit weniger subtil als die Umgestaltung dieses Denkmals fiel denn auch ein aktuell neu in Kiew aufgestelltes aus: Der zeitgenössische Künstler Dmytro Iv zeigt einen vier Meter hohen Kopf Putins, der sich selbst eine Pistole in den Mund schiebt.

Nicht gerade subtil: Das Protestkunstwerk des ukrainischen Künstlers Dmytro Iv in Kiew sieht Putin am Zug – gegen sich selbst.
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In den von Russland besetzten Gebieten wurden im Vorfeld des 9. Mai Sowjetdenkmäler erneuert und beflaggt: Selbst eine 2015 von Ukrainern entfernte Lenin-Statue wurde von russischen Truppen ersetzt – und das, obwohl unter Putins Regentschaft der Revolutionsführer Lenin erinnerungspolitisch diskreditiert und Stalin, der Putins aggressiver Staatsauffassung mehr entspricht, teils rehabilitiert wurde.

Unabhängig davon, mit welcher Zielsetzung und Vehemenz man derlei Debatten heute führen will, bestätigt Putin jedenfalls George Orwell: "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." (Stefan Weiss, 9.5.2022)