Kreml-Chef Wladimir Putin bei seiner Rede auf dem Moskauer Roten Platz.

Foto: imago / Mikhail Metzel

Das Wetter war schuld: Der Überflug von Kampfflugzeugen, die das berüchtigte Militärsymbol "Z" formen sollten, wurde ebenso abgesagt wie der Flug der Illjuschin-80, der Maschine, die im Falle eines Atomkrieges dem russischen Präsidenten Wladimir Putin als Befehlszentrale dienen soll. Die martialische Flugshow sollte der Höhepunkt der Parade sein, doch sie fiel aus.

Dennoch ging es, neben dem Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges, in erster Linie um den Krieg in der Ukraine, den man in Russland "Spezialoperation" zu nennen hat. In seiner Rede begründete Präsident Putin die Militäroperation damit, dass der Westen "die Invasion unseres Landes, einschließlich der Krim", vorbereitet habe. Die Ukraine sei mit Nato-Waffen aufgerüstet, sie stelle eine Gefahr für Russland dar. Feinde Russlands nutzten Terroristen, um Russland zu schaden. Der Zweite Weltkrieg in Europa, der "Vaterländische Krieg", wie er in Russland heißt, sei Verpflichtung, das Angedenken an die zu erhalten, die den Nazismus besiegt hätten. Man müsse "wachsam sein und alles tun, damit sich die Schrecken eines globalen Krieges nicht wiederholen".

Putin rechtfertigte die "Spezialoperation" in seiner Rede mit Bedrohungen vonseiten der Nato.
DER STANDARD

Putin gibt sich fürsorglich

Putins Rede zu Beginn der Parade, sie war patriotisch und voller Anschuldigungen gegen den Westen. Doch vom Einsatz neuer Waffensysteme in der Ukraine, von einer Generalmobilmachung gar, wie viele Beobachter befürchtet hatten, sprach der Präsident nicht. Putin kündigte stattdessen Hilfen für Familien und Kinder der in der Ukraine gefallenen Soldaten an. "Der Staat, die Regionen, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen tun alles, um diesen Familien Fürsorge zukommen zu lassen und ihnen zu helfen", sagte Putin auf dem Roten Platz.

Gemäß westlichen Militärbeobachtern starben tausende russische Soldaten im Ukraine-Krieg. Anders die Zahlen aus Moskau: Nach offiziellen Angaben wurden bislang 1351 russische Soldaten getötet. Nun also Hilfe für die Angehörigen. "Ein entsprechendes Präsidentendekret wurde heute unterzeichnet", so Putin. Eine der Maßnahmen sei eine Quotenregelung in Sachen Bildung. Demnach hätten Kinder von Soldaten, die in der Ukraine gekämpft haben, Anspruch auf zehn Prozent der Studienplätze an staatlichen Hochschulen. Sie müssten keine Aufnahmeprüfung an der jeweiligen Universität ablegen.

Russlands Präsident verwies durchaus darauf, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit den westlichen Alliierten errungen worden war. Er beklagte aber zugleich die dort herrschende "Russophobie". "Uns ist bekannt, dass den US-Veteranen, die zur Moskauer Parade anreisen wollten, das faktisch verboten wurde", behauptete Putin.

Wichtigster Feiertag

Der 9. Mai ist Russlands wichtigster Feiertag. Vor 77 Jahren, am 8. Mai 1945, war der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende gegangen. Auf dem Roten Platz beobachteten am Montag Kriegsveteranen, die russische Führung und die Ehrengäste die Parade von rund 11.000 Soldaten aller Waffengattungen. Westliche Diplomaten und Politiker nahmen nicht teil – ein Novum.

Am Straßenrand der Zufahrtsstraßen zum Roten Platz bestaunten die Passanten den Truppenaufmarsch und die neuesten Panzer und Raketen. Vorgeführt wurden auch in der Ukraine eingesetzte Waffen: modernste Kampfpanzer vom Typ T-14, Iskander-Raketen, die Luftabwehrsysteme S-400, Buk-M3 und Tor-M2 sowie Kampfroboter. Dazu das strategische Arsenal der Interkontinentalraketen. Nicht nur die Moskauer beobachteten die Parade, auch viele Besucher aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken waren in der Stadt. "Ich bin neugierig, deshalb bin ich da", sagt einer der Touristen. Und ein anderer ergänzt: "Meine Kinder sollen das mal sehen."

Ein anderes Gedenken, jenseits der martialisch rasselnden Panzerketten auf den Straßen der Hauptstadt, begann zu Mittag ein paar Kilometer vom Roten Platz entfernt: der Marsch des "unsterblichen Regiments". Russinnen und Russen trugen Fotos ihrer Angehörigen, die im Weltkrieg gestorben sind. 27 Millionen waren es in der Sowjetunion. Tausende Teilnehmer sind in diesem Jahr gekommen, Freiwillige haben den Marsch organisiert.

Private Initiative verstaatlicht

Die Idee zum Marsch des "unsterblichen Regiments" entstand 2012 im sibirischen Tomsk. Ursprünglich war es eine private Initiative. Ein Journalist wollte gemeinsam mit zwei Freunden eine neue Form der Erinnerungskultur schaffen. Sie rechneten mit einigen hundert Teilnehmern. Über 6000 kamen. Seitdem gibt es derartige Märsche in vielen russischen Städten. Eigentlich sollte es eine Privatinitiative bleiben, fern von staatlichem Einfluss. Dies gelang nicht. Heute ist der Marsch des "unsterblichen Regiments" fester Bestandteil des offiziellen Gedenkens zum 9. Mai. 2015 marschierte auch Präsident Putin mit. Er trug ein Porträt seines verstorbenen Vaters. Der Marsch, er ist auch ein Volksfest. Russische Volkslieder sind zu hören, immer wieder Hurra-Rufe. Und natürlich diskutieren alle über die "Spezialoperation".

"Es geht nicht um die Ukraine", erklärt Maria, 35 Jahre alt, "es geht um einen Konflikt zwischen den USA und Russland." Dies entspricht der offiziellen Lesart, zu sehen und zu hören jeden Tag im russischen Staatsfernsehen. "Wir trauern um die Toten im Krieg", sagt Natascha, eine andere Teilnehmerin. "Jeder Krieg ist furchtbar." Der Konflikt in der Ukraine ist für die 62-Jährige, die mit ihren Freundinnen gekommen ist, ein heikles Thema. Offen verurteilen mag sie den Angriff auf das Nachbarland nicht. Nur so viel deutet sie an: "Niemand will, dass irgendwer stirbt."

Mitten in der Menge geht eine Deutsche, die in Moskau lebt. Sie habe sich sehr schwergetan, hierherzukommen, sagt sie: "Mein Vater war 19 Jahre alt, als er in diesen Krieg gezogen ist." Es sei ein belastendes Gefühl, auf die Bilder zu schauen, die die Angehörigen tragen. "Möglicherweise hat mein Vater einen dieser Menschen getötet." Der 9. Mai in Moskau, Gedenken an die Toten im Zweiten Weltkrieg – und eben auch der Toten heute in der Ukraine. (N. N.*, 9.5.2022)

* Name der Redaktion bekannt