Es war der Schlussstrich, der von vielen Seiten mitunter sehnlichst erwartet wurde und gegen den sich Fabrice Leggeri so lange gewehrt hatte. Ende April aber war es schließlich so weit: Der Direktor von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, bot seinen Rücktritt an, den der Verwaltungsrat auch annahm. Ohne Bedauern, eher beleidigt äußerte sich der Franzose, der sieben Jahre lang die Geschicke in der Warschauer Frontex-Zentrale lenkte, zum Abschied. Er könne alle Vorwürfe widerlegen, schrieb er laut "Spiegel" in seiner Abschiedsmail an die Mitarbeiter. Nur würde ihm niemand mehr glauben.

Vorwürfe gab es zahlreiche gegen ihn, sie hatten sich in den vergangenen Jahren angehäuft. Doch der 54-Jährige konnte sie lange erfolgreich zurückweisen. Da gibt es zum einen die Vorwürfe von Pushbacks in der Ägäis, die vor allem die drei Medien "Spiegel", "Le Monde" und "Lighthouse Reports" gemeinsam penibel aufgedeckt haben. So sollen griechische Beamte in der Ägäis, durch die eine der wichtigsten Flucht- und Migrationsrouten in die EU verläuft, Asylsuchende zurückgewiesen, mitunter gar auf aufblasbaren Rettungsinseln auf dem Meer ausgesetzt haben. Und Frontex, das in der Ägäis besonders stark vertreten ist, soll aktiv mitgeholfen oder zumindest tatenlos zugesehen haben.

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10. August 2015: Ein Hubschrauber von Frontex patrouilliert über der griechischen Insel Lesbos, als ein syrischer Bub in einem Boot den Strand erreicht.
Foto: REUTERS/Antonis Pasvantis

Rückhalt vom Verwaltungsrat

Pushbacks sind ein klarer Bruch europäischen Rechts, und Frontex müsste diese dem eigenen Regelwerk zufolge mit allem verhindern, was in seiner Macht steht. Während vor allem EU-Parlamentarier aus dem linken und sozialdemokratischen Spektrum Leggeris Rücktritt forderten, weil er von den Zurückweisungen zumindest gewusst und diese zu vertuschen versucht haben soll, hatte er lange den Rückhalt des Frontex-Verwaltungsrats, in dem die Schengen-Länder dominieren.

Andererseits ermittelt die EU-Antikorruptionsbehörde Olaf schon länger gegen Leggeri, wobei es dabei nur indirekt um Pushbacks ging. Vielmehr werden dem Franzosen ein autoritärer Führungsstil und Missmanagement vorgeworfen. Unter anderem schaffte er es nicht, 40 Personen einzustellen, die sich um die Wahrung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen kümmern sollten. Im Zuge der Ermittlungen wurde sogar Leggeris Büro und das seines Kabinettschefs durchsucht.

Fabrice Leggeri war sieben Jahre lang Direktor von Frontex.
Foto: EPA/JAKUB KAMINSKI

Nachfolgerin aus Lettland

Vorläufig übernimmt die Lettin Aija Kalnaja, die zuvor Leggeris Vize war. Es heißt, sie soll nicht abgeneigt sein, dauerhaft den Posten zu übernehmen – die Entscheidung darüber fällt Anfang Juni im Verwaltungsrat. In ihrer ersten Mail grenzte sie sich gleich einmal von Leggeri ab: Die Rechte von Asylsuchenden müssten gewahrt werden, Frontex dabei ein Vorbild sein, berichtete der "Spiegel".

Das führt zu dem Dilemma der Agentur, die 2004 gegründet und im Zuge der großen europäischen Flucht- und Migrationskrise ab 2015 unter Leggeri massiv ausgebaut wurde. Zuletzt hatte Frontex ein Jahresbudget von 750 Millionen Euro, bis 2027 soll es mit einer ständigen Reserve von 10.000 Grenzbeamten ausgestattet werden.

Karner fordert robusten Grenzschutz

Die Erwartungshaltung ist dementsprechend, Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) hat sie nach Leggeris Rücktritt auf den Punkt gebracht: "Eine starke Grenzschutzagentur ist heute nötiger denn je. Alle EU-Länder sind sich einig, dass es eines robusten Außengrenzschutzes bedarf." Und das ist das große Dilemma in Warschau: Die Hoffnung mehrerer EU-Staaten, Frontex möge sie vor neuen Flucht- und Migrationsbewegungen schützen, im Zweifelsfall auch mittels Pushbacks, während die Agentur gerade als Behörde der Europäischen Union noch strikter EU-Recht wahren muss.

Aktuell hat Aija Kalnaja in der Frontex-Zentrale in Warschau das Sagen.
Foto: EPA/Marcin Obara

Dass diverse europäische Regierungen kein Problem mit illegalen Zurückweisungen von Asylwerbern haben, zeigt sich am Beispiel Polen. Als im vergangenen Jahr Belarus Tausende von Flüchtlingen und Migranten gen EU schickte und polnische Grenzbeamte sie zurückwiesen, war der Aufschrei in der EU kaum hörbar. Andere EU-Staaten schickten Unterstützung, auch die EU-Kommission als Hüterin der EU-Verträge und des EU-Rechts reagierte zurückhaltend.

Rechtliche Grauzone

Hat Leggeri, unter dessen Ägide Frontex laut "Spiegel" zwischen März 2020 und September 2021 an Pushbacks von mindestens 951 Asylsuchenden beteiligt war, also nur das umgesetzt, was sich die Regierungen in Wien, Budapest oder Warschau schon längst wünschen? Raphael Bossong, Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sieht hinsichtlich der Ereignisse in der Ägäis eine rechtliche Grauzone: "Legt man beiseite, was Leggeri alles gemacht und nicht gemacht hat, muss man ihm eines zugutehalten: Er hat die vergangenen zwei Jahre immer wieder gefordert, dass genau definiert werden soll, was Frontex machen darf und was nicht."

Konkret ist bei den Pushbacks Folgendes gemeint: Leggeri verwies diesbezüglich schon öfter auf eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2014, laut der er es erlaubt sei, eine Kursänderung bei Booten zu erzwingen, wenn sich diese nicht in Seenot befänden. Dabei bat er gleichzeitig die EU-Institutionen um rechtliche Klärung, wie diese Verordnung im Einzelfall umzusetzen sei. Diese ist aber nie erfolgt.

In Griechenland, hier auf der Insel Kos, ist Frontex besonders stark vertreten.
Foto: AFP/ARIS MESSINIS

"Bei dieser Verordnung gehen die Meinungen auseinander", sagt Bossong dem STANDARD, "meiner Lesart nach ist das eine sehr eng gefasste Möglichkeit, wenn auch wirklich klar ist, dass es hier keine unmittelbare Gefahr gibt und eindeutig keine Schutzbedürftigen an Bord sind. Andere sehen das anders." Definitiv nicht gemeint sei, dass Asylsuchende auf aufblasbaren Rettungsinseln auf Hoher See zurückgelassen werden.

Rechtliche Klärung schwierig

Wie nun könnte man hier eine Klärung erhalten? Eine Klage vor europäischen Gerichten sei eine Möglichkeit, doch gibt es auch hier zahlreiche Hürden. "Hier zu einem Erfolg zu kommen ist sehr schwierig und technisch", sagt Bossong, "vor allem ist oft nie ganz klar, wer dafür verantwortlich ist. Ist es die nationale Küstenwache, ist es die Organisation Frontex, sind es die involvierten Mitarbeiter vor Ort, die von verschiedenen EU-Staaten entsandt werden?"

Wer auch immer künftig Frontex leiten wird, der oder die wird auch mit dieser Grauzone weiterleben müssen. Auch sonst glaubt Bossong nicht, dass durch einen Wechsel an der Frontex-Spitze schlagartig alles anders wird. Zumindest aber hofft er auf mehr Transparenz und Verantwortlichkeit gegenüber anderen Institutionen.

Klar ist für ihn aber, dass der Hauptteil der Arbeit von Frontex trotz des vielen Rampenlichts für die Arbeit an den EU-Außengrenzen ein anderer ist: Die Agentur erstellt allgemeine Datenzusammenfassungen und Risikoanalysen, sie wird auch zuständig sein für die neue elektronische Einreiseerlaubnis. Sie soll überwachen, wie die EU-Staaten die Standards der EU einhalten, sie soll auch die Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten hinsichtlich des Grenzschutzes verbessern. Und geplant ist, dass Frontex zu einem Großteil den Bereich der Rückführungen übernimmt.

Nicht die Hände schmutzig machen

Was die Arbeit etwa in der Ägäis angeht, so werden derlei Missionen für Frontex vermutlich seltener: "Ich gehe nicht davon aus, dass Frontex einen Hotspot an der EU-Außengrenze übernimmt", sagt Bossong abschließend. Eher werde die Agentur so wie in Griechenland aus der zweiten Reihe Unterstützung leisten. "Und auch das wird immer schwieriger. Denn wenn klar wird, dass nationale Behörden systematisch EU-Recht brechen, müsste sich Frontex laut Reglement zurückziehen. Und wenn die EU-Länder merken, dass sich Frontex nicht die Hände schmutzig machen kann, wird man sie auch seltener anfordern." (Kim Son Hoang, 12.5.2022)