Passanten in Moskau – daneben hängen T-Shirts, bedruckt mit Zeichen der Zustimmung für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.

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Entgegen zahlreichen Untergangsprognosen scheint sich die massiv sanktionierte russische Wirtschaft noch über Wasser zu halten. Nicht zuletzt dank der anhaltenden Exporteinnahmen durch Öl und Gas in Milliardenhöhe. Für den Ökonomen Sergei Guriev ist dennoch klar: Russland steuert auf eine wirtschaftliche Katastrophe zu, wie sie das Land schon lange nicht mehr erlebt hat.

Guriev galt lange als einer der renommiertesten Köpfe in Russland. Er beriet das russische Präsidialamt während des Intermezzos von Dmitri Medwedew zwischen 2008 und 2012 – bis Präsident Wladimir Putin bei seiner Rückkehr 2013 Guriev zur Persona non grata erklärte. Laut dem Wirtschaftsprofessor muss sich Europa auf einen eingefrorenen Konflikt einstellen: Putin würden auf lange Sicht zwar die Ressourcen ausgehen, ein Rückzug wäre aber der innenpolitische Ruin, sagt Guriev im STANDARD-Interview. Von Dauer sei ein passiver Krieg ohne Frieden.

STANDARD: In dem Buch "Spindiktatoren", das Sie jüngst gemeinsam mit Daniel Treisman veröffentlich haben, sagen Sie, dass sich das Gesicht der Tyrannei im 21. Jahrhundert verändert hat. Inwiefern?

Guriev: Das Gros der heutigen undemokratischen Führer stützt seine Macht nicht weiter auf die Unterdrückung der Massen, sondern auf die Manipulation von Informationen. Sie sind eher Diktatoren des Spins als der Angst. Anstatt ihre Bürger und Bürgerinnen zu terrorisieren, versuchen sie mithilfe von Propaganda, das Volk davon zu überzeugen, dass sie Demokraten sind. Unterdrückt werden nur Oppositionsaktivisten, die den Status quo nicht akzeptieren. Repressionen werden also nur gezielt und verdeckt eingesetzt und dabei zugleich geleugnet. Diese Art der Tyrannei passt besser in eine globalisierte Welt mit grenzüberschreitendem Handel, denn diese Strategie erlaubt es, daran teilzunehmen und das eigene Wirtschaftswachstum zu fördern.

STANDARD: Trifft das auch auf den russischen Staatschef Wladimir Putin zu?

Guriev: Wladimir Putin hat das Buch mitunter inspiriert. Auch wenn er nicht der Pionier dieses Herrschaftsmodells ist, zählte er zu den erfolgreichsten und raffiniertesten Spin-Diktatoren. Dies hat ihm erlaubt, zwanzig Jahre an der Macht zu bleiben.

Guriev wurde von Putin 2013 aus Russland gedrängt, weil dem Staatschef seine Meinung missfiel.
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STANDARD: Ihr Buch ist kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erschienen. Seither sind die Repressionen in Russland massiv.

Guriev: Der Entwurf für das Buch war schon vor einem Jahr fertig. Bereits damals beobachteten und beschrieben wir Anzeichen dafür, dass Putin sich weg vom Modell der Spin-Diktatur in Richtung Angstdiktatur bewegt. Diese Transformation wurde im Zuge des Kriegs vollendet. Und zwar als Putin feststellte, dass eine Wiederholung der Krim-Annexion von 2014 – mit der Putin seine Zustimmungswerte auf 90 Prozent hochkatapultierte – in diesem Krieg nicht gelingen wird.

STANDARD: Warum hat die Spin-Strategie für ihn nicht mehr funktioniert?

Guriev: Wie viele Spin-Diktatoren stand Putin vor dem Dilemma, dass dieses System zunehmend auch Gefahren für seine Macht barg. Putins Beliebtheit hing lange vom wirtschaftlichen Wachstum ab. Dafür war Putin auf eine gebildete Elite angewiesen. Doch die hat angefangen, Fragen zu stellen. Er musste sie also ins System einbinden, um sie zu kontrollieren, oder sie zensieren. Das wurde aufgrund von Youtube, man schaue sich den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny an, immer schwieriger. All das hat viele Ressourcen gefressen, während der Rest der Bevölkerung verarmte. Putin hat also die Korruption ausgeweitet und damit das Wirtschaftswachstum untergraben. 2013 lag die Wirtschaft brach und seine Beliebtheit an einem Tiefpunkt. Um diese zu steigern, schritt er zur Krim-Offensive. Vor dem Kriegsbeginn im Februar lagen die russischen Einkommen inflationsbereinigt – beziehungsweise die Kaufkraft – rund zehn Prozent unter dem Niveau von 2013. Seinen Zustimmungswerten hat das natürlich zugesetzt, und er wollte dem mit einem neuerlichen Krieg in der Ukraine entgegentreten. Doch dies ist gescheitert. Deshalb musste er die Spin-Strategie aufgeben und stattdessen zur expliziten Massenunterdrückung und militärischen Zensur übergehen. Unabhängige Medien wurden untersagt und soziale Medien blockiert. Russland ist heute ein ganz anderer Ort als noch vor wenigen Monaten.

STANDARD: Auch Sie kennen den Kreml von innen, seit 2013 sind Sie im politischen Exil. Wann gab es bei Ihnen ein Umdenken?

Guriev: Ich habe nie für die russische Regierung gearbeitet, sondern habe das Präsidialamt zwischen 2008 und 2012 als externer Experte beraten. Den damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew und Wladimir Putin kenne ich nur aus Sitzungen, nicht persönlich. Medwedew hielt damals noch Reden über eine Zukunft für Russland, die meiner entsprach: eine, in der die Wirtschaft liberalisiert, modernisiert und weiterentwickelt würde. Doch die Umsetzung dieser Ideen blieb langsam und inkohärent. Als Putin nach Medwedew erneut Präsident wurde, wurde ich gewarnt, dass er unglücklich über meine Aussagen und meine Unterstützung für Nawalny und Michail Chodorkowski (den in Ungnade gefallenen Ex-Vorstandsvorsitzenden des zerschlagenen Ölkonzerns Yukos, Anm.) sei. Wie auch andere Experten hatte ich in einem Gutachten geschrieben, dass es keinen Beweis für die Schuld Chodorkowskis gibt. Ich wurde daraufhin verhört, mein Büro wurde durchsucht, und meine E-Mails wurden beschlagnahmt. Über einen gemeinsamen Bekannten ließ mich Putin wissen, dass ich lieber das Land verlassen solle. Und so kaufte ich ein One-Way-Flugticket.

STANDARD: Wie denken Sie heute über Putin?

Guriev: Ich denke, dass er derselbe ist. Nur seinen Beraterstab hat er von kritischen Stimmen gesäubert. Heute sind das alles Ja-Sager, die Angst vor ihm haben. Deshalb macht er heute mehr große Fehler wie den Ukraine-Krieg. Das wird ihm und Russland teuer kommen.

STANDARD: Wie sehen Sie die Aussichten auf Frieden?

Guriev: Putin werden die Ressourcen und Soldaten ausgehen, die Offensive wird stagnieren. Eine Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen wird er aber nie zulassen, denn das würde seine Glaubwürdigkeit in Russland zerstören. Wir müssen uns auf einen eingefrorenen Konflikt einstellen. Dann gibt es zwar keinen aktiven Krieg, aber auch keinen Frieden. Die Sanktionen bleiben damit aufrecht, die Wirtschaft unter Druck und die Russen unterdrückt.

STANDARD: Bisher konnte Russland den totalen Ruin verhindern.

Guriev: Nicht wirklich, denn die Inflation ist auf einem Jahrzehntehoch (seit 2002, Anm.) und wird bis Jahresende auf 20 Prozent steigen. Das russische Bruttoinlandsprodukt wird dagegen um zehn Prozent sinken – das entspricht der größten Rezession seit dem Ende des Kalten Kriegs in den 1990er-Jahren. Russland steuert auf eine wirtschaftliche Katastrophe zu, wie sie das Land schon lange nicht mehr erlebt hat. Auch die Russen werden das immer stärker zu spüren bekommen. Besonders schmerzhaft wird es, wenn russische Unternehmen ihre Produktion herunterfahren müssen, weil die Importgüter fehlen. Oder wenn sie keine Käufer mehr finden, weil die Einkommen so sehr gesunken sind. Das Jahr 2022 wird sehr schwer für das Land und seine Leute.

STANDARD: Sie halten die bisherigen Sanktionen also für wirksam?

Guriev: Die westlichen Sanktionen sind in ihrer Einigkeit und Wucht beispiellos. Die wichtigsten sind jene, die die Zentralbankreserven treffen. Denn damit werden auch Putins Haushalt und die Möglichkeit, russische Unternehmen vor dem Bankrott zu retten, eingeschränkt. Auch der Massenexodus westlicher Unternehmen wird starke Folgen haben, denn die russische Wirtschaft ist von importierter Technologie, Gerätschaft und westlichem Kapital abhängig.

STANDARD: Braucht es dennoch ein Energie-Embargo?

Guriev: Ja, es würde Russland zerstören. Um ein gröberes Problem für Putin zu kreieren, sollte sich Europa dem US-Embargo für Öl und Gas anschließen. Das würde ein Budgetloch von mehreren Prozentpunkten bedeuten und auch eine neue Situation für Putin, der dann ein Budgetloch ohne Reserven hätte. Er müsste dann Pensionen und die Löhne der Soldaten, Polizisten, Beamten und Propagandisten beschneiden. Das würde zu großen politischen Problemen für Putin führen.

STANDARD: Putin hat die Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien gestoppt. Was will er bewirken?

Guriev: Ich halte dies für einen großen Fehler. Er ist damit vertragsbrüchig. Putin versucht damit das gasabhängige Deutschland zu warnen, das ein Ölembargo befürwortet. Doch Putins Drohungen gehen ins Leere, schließlich braucht er auch die Gaseinkommen aus Deutschland und Westeuropa. Sein Gas kann sonst nirgendwo hin. Russland hat keine substanziellen Flüssiggaskapazitäten und keine leeren Leitungen, die woanders hinführen. Wenn Westeuropa das Gas nicht kauft, dann kauft es niemand, und das ist ein Riesenproblem für ihn. (Flora Mory, 18.5.2022)