Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Experimentierstätten des Landes: Das Radium-Institut in der heutigen Boltzmanngasse in Wien, hier kurz nach der Fertigstellung im Jahr 1910.
Foto: Archiv der ÖAW

Das Institut für Radiumforschung in Wien zählt zu den bedeutendsten Forschungseinrichtungen in Österreichs Geschichte. Hier haben sich Forschende früher als irgendwo sonst ganz der Untersuchung des Phänomens der Radioaktivität gewidmet. Das 1910 eröffnete Radium-Institut war auch die erste eigene naturwissenschaftliche Einrichtung der Akademie der Wissenschaften und sollte bis heute – zumindest gemessen an der Zahl der Nobelpreis-Beteiligungen, nämlich zwei – die erfolgreichste sein.

Das war auch Stefan Meyer (1872–1949) zu verdanken, der von Beginn an Leitungsfunktionen am Radium-Institut innehatte. Der international renommierte Physiker und Forschungsorganisator baute die einzigartige Forschungsstätte zu einem internationalen Zentrum der Radioaktivitätsforschung aus, an dem für die damalige Zeit außergewöhnlich viele Wissenschafterinnen arbeiteten.

Stefan Meyer im "Magnetzimmer" des Instituts für Radiumforschung in Wien.
Foto: Zentralbibliothek für Physik der Uni Wien

Das endete schlagartig mit dem "Anschluss" 1938. Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Radium-Instituts war auch er jüdischer Herkunft. Bevor die Nazis den Uni-Professor Meyer aus rassistischen Gründen entlassen konnten, reichte er sein Pensionierungsgesuch ein. Das Eigentum der wohlhabenden Familie, das vor allem auf Meyers Frau Emilie (eine geborene Portheim) zurückging, plünderten die Nationalsozialisten gnadenlos.

Zahlreiche NS-Opfer

Dem NS-Terrorregime fielen auch zahlreiche Mitglieder der Familie zum Opfer: Meyers Bruder und dessen Sohn wurden ebenso ermordet wie die meisten Angehörigen der Familie seiner Frau. Doch das Ehepaar Meyer überlebte, was der Physiker in einem Brief an Lise Meitner nach dem Krieg rückblickend als "Mirakel" bezeichnete.

Doch wie kam dieses Wunder zustande? Diese Frage hat Wolfgang L. Reiter viele Jahre seines eigenen Lebens umgetrieben – und nun nach akribischen Recherchen in einem neuen Buch zu beantworten versucht. Auch wenn fast achtzig Jahre danach einiges Vermutung bleiben muss, so ist dem Autor mit "How Did Meyer Survive?" eine eindringliche Fallstudie über einen abenteuerlichen Überlebenskampf im NS-Terror gelungen.

Wolfgang L. Reiter, "How Did Meyer Survive? Wie der Physiker Stefan Meyer die NS-Diktatur überlebte". € 25,– / 199 Seiten, Czernin-Verlag, Wien 2022

Zugleich ist das facettenreiche Buch aber auch noch eine Kulturgeschichte des jüdischen und konvertierten Bürgertums in Wien um 1900, eine Mikroanalyse des NS-Herrschaftssystems und ein Beitrag zur Lokalgeschichte des Salzkammerguts in der NS-Zeit.

Reiter ist denn auch der ideale Autor für dieses Buch: Der studierte Physiker forschte selbst am Radium-Institut und verfasste als Wissenschaftshistoriker seit den späten 1980er-Jahren etliche maßgebliche Arbeiten über dessen Geschichte. Zudem stammt er aus Bad Ischl, wo Stefan Meyer mit seiner Frau 1941 "untertauchte", weil die Familie dort eine Villa besaß.

Hilfreiche Hinweise im Nachlass

Doch erst als Reiter vor zwanzig Jahren durch einen Zufall große Teile des Nachlasses von Stefan Meyer erhielt, kam er dem Rätsel auf die Spur. Er fand Hinweise, wie sich Meyers Tochter Agathe, die damals erst in ihren 20ern war, listig darum bemüht hatte, eine "arische" Herkunft ihres Vaters zu erfinden: Durch falsche Zeugenaussagen und Gutachten von "Rassenforschern" wollte "Aga" belegen, dass Stefan Meyer ein uneheliches Kind "arischer" Eltern war.

Mit immer neuen Geschichten über die "wahre" Herkunft ihres Vaters kämpfte sie wie eine mutige Scheherazade gegen die grausamen Mühlen der NS-Bürokratie an, um das Überleben der Familie zu sichern. Ihr Spiel auf Zeit beim Reichssippenamt hat – neben dem Stillhalten der Bad Ischler, unter denen sich augenscheinlich kein Denunziant befand – wohl entscheidend mit dazu beigetragen, dass Meyer und seine unmittelbare Familie überlebten.

Nachwirkende Traumatisierung

Ohne alle literarischen Kunstgriffe und nur durch Originalquellen gelingt es Reiter eindrucksvoll, dieses Leben in ständiger Angst vor den NS-Häschern und dem Auffliegen der falschen Abstammungsgeschichten erahnbar zu machen. Wie lang dieses Trauma auch in der Familie nachwirkte, belegt eine Anekdote, die der Autor zu Beginn des Buchs erzählt.

1988, nach Erscheinen seines ersten Texts über das Radium-Institut, schrieb Meyers Tochter nämlich erbost an Reiter: "Wozu provozieren Sie, dass ich mit: ,Ach so, Sie haben jüdische Vorfahren gehabt‘ angeredet werde????" Und Meyers Sohn Frederick drohte gar mit einer Klage, falls Reiter weiter die jüdische Herkunft Stefan Meyers erwähnen sollte. Für Reiter war diese ablehnende Reaktion damals erklärungsbedürftig. Die nun präsentierten Antworten auf die Frage, wie Stefan Meyer überlebt hat, lösen 34 Jahre später auch dieses Rätsel. (Klaus Taschwer, 15.5.2022)