Hat ihre Freude am Horror-Genre entdeckt: Florence Welch, ihr neues Album folgt am Freitag: "Dance Fever".

Foto: Atumn de Wilde

Die Stimme tremoliert. Sie justiert herum, wie eine Läuferin im Startgerät erst den richtigen Tritt sucht, bevor sie losrennt. Florence Welch eilt aber nicht los. Das ginge schon wegen der von ihr präferierten Wallewalle-Kleider nicht. Der Luftwiderstand allein! Da wäre die Konkurrenz längst mit Medaillen behangen, ginge sie erst wie ein Segelboot über die Ziellinie. Nein. Welch ist Sängerin. Und zwar eine, die diese Zuschreibung verdient. Keine Piepmaus, niemand, der Autotune braucht, um ein rachitisches Lüfterl auszuatmen. Florence Welch hat ein Organ, und das ist zu ihrer Trademark geworden. Ebenso wie ihr Faible für Kleider, die vor zwei Jahrhundertwenden erstmals in der Mode waren.

Am Freitag veröffentlicht sie unter dem Namen Florence + The Machine ihr neues Album. Es heißt Dance Fever und führt mit diesem Titel ein wenig in die Irre. Von wegen Saturday Night Fever. Nix da. Viel zu modern. Zwar kommt schon zweitgereiht der Song Free, der mit einem Synthesizer an die Klasse von 1982 erinnert und forsch nach vorne rattert. Das mag so etwas wie Tanzlust stimulieren, doch im Albumgefüge ist es doch eher ein Ausreißer.

Von high nach low

Die 35-jährige Britin zählt zu den erfolgreichsten Hervorbringungen der britischen Popmusik der letzten zwölf Jahre, und sie lässt einiges raus, was sich in den letzten Jahren aufgestaut hat. Vier Jahre sind seit dem Album High as Hope vergangen. Die darauf auftauchende Beschaulichkeit, die ihren sonst meist hymnisch galoppierenden Popsongs Erdung verpasst hat, ist ebenso zerschlagen wie das erwähnte "High", das 2020 von Corona zum lähmenden "Low" gemacht wurde.

Motorsäge in Achselhöhle

Diese Zäsur spielt zurzeit in fast jeder Neuerscheinung eine Rolle, viele Werke sind in den Zwangsruhepausen entstanden, oft unter Bedingungen, die Bands bis dahin nicht gewohnt waren – Stichwort: Isolation.

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Auch Welch hatte es erwischt. Corona einerseits, andererseits entdeckte sie das Horrorkino für sich. Natürlich nicht so sehr das Splatter-Genre: Motorsäge gegen Achselhöhle – wer gewinnt? Nein, dafür ist sie ein doch zu edles, sensibles Geschöpf. Zu ihrer Erscheinung passt ein romantisches Sujet wie Dracula viel besser, die Verfilmung des Stoffs von Francis Ford Coppola hat es ihr angetan.

Nach vorne schauen

Blut, Einsamkeit, Romantik, enigmatische Geschöpfe; das ist nicht der schlechteste Stoff, um daraus Kunst zu erschaffen. Doch Welsh verordnete sich eine Auflage: Sie wollte die letzten beiden Jahre nicht ins Zentrum des Albums rücken, sondern lieber nach vorne blicken. In einem den Medien zur Verfügung gestellten Interview spricht sie von einem Befreiungsschlag. Die Ketten der Pandemie wolle sie ablegen, endlich wieder Tee ohne Maske trinken.

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Ein Song wie Dream Girl Evil markiert da so etwas wie einen Wendepunkt am Album. Er ist schattseitig genug, um die Düsternis der Pandemie zu beschreiben, gleichzeitig bricht Welch aus dem Song nachgerade heraus. Ein Kunstgriff, für den sie bekannt ist. Ihr Songs kippen oft in einen Expressionismus, der ihre Stimme ins Drama rüberträgt, wo ihre Songs raumgreifend ins Epische wuchern.

Barfuß über die Alpen

Dieses Auf und Ab der Gefühle bestimmt die Chronologie des Albums. Mit 14 Songs hat es zwar ein paar Längen, doch gerade die nicht zu ergriffene Welch ist oft spannender als jene, die Gebirgsketten barfuß stürmt. Ein Lied wie The Bomb jazzelt gar ein wenig, eröffnet wird das Album aber mit dem selbstbewussten King. Zu einem dominant flatternden Bass stellt sie beide Füße in die Tür, dirigiert das Orchester hoch, zersingt ein paar Sicherheitsfenster und richtet aus, sie sei wieder da, alles sei gut. "Cause I am no mother, I am no bride, I am king."

Damit öffnet sie einen Kreis, den sie am Ende schließt. In Morning Elvis findet sie sich in Memphis wieder, der Heimat von König Elvis, doch wieder schafft sie es nicht nach Graceland, um den Boden zu küssen. Doch Elvis würde das schon verstehen, siehe erstes Lied: eine Königin, das ist sie selbst. (Karl Fluch, 12.5.2022)