Die getötete Al-Jazeera-Journalistin Shirin Abu Akleh wird von einer palästinensischen Ehrengarde in der Stadt Nablus im Westjordanland getragen.

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Trauernde tragen ein Foto der Getöteten.

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In der letzten E-Mail-Nachricht, die Shirin Abu Akleh ihrem Arbeitgeber schickte, schrieb die 51-Jährige: "Bin auf dem Weg. Melde mich mit Updates, sobald ich ein Bild von der Lage habe." Dazu kam es nicht mehr. Wenig später, gegen sieben Uhr früh am Mittwoch, war die Reporterin des Fernsehkanals Al Jazeera bereits tot. Die kugelsichere Weste und der Schutzhelm, den die erfahrene Journalistin auch diesmal trug – auf ihrem Dreh im Gewalthotspot Jenin im Westjordanland –, nützten ihr diesmal nichts. Die palästinensische Reporterin wurde von einer Kugel im Gesicht getroffen und erlag ihren schweren Verletzungen.

Abu Akleh war nach Jenin gefahren, um dem internationalen Publikum von Al Jazeera aktuell von einem Antiterroreinsatz der israelischen Armee im dortigen Flüchtlingscamp zu berichten. Am Ende waren es die internationalen Medien, die über sie berichteten, ihr Foto prangte auf den Startseiten der Newsplattformen.

Seit über zwanzig Jahren bei Al Jazeera

Wenige Journalisten verfügten über so viel Erfahrung in den gewalterschütterten Palästinensergebieten wie Abu Akleh. Die palästinensische Reporterin berichtete seit über zwanzig Jahren für Al Jazeera. Eine ganze Generation von Palästinensern ist mit ihren Reportagen aufgewachsen. Ihr Tod löste aber nicht nur in palästinensischen Kreisen, sondern auch unter den Kollegen der internationalen Presse in Jerusalem Schock und Betroffenheit aus. "Entsetzt" zeigt sich die Vereinigung der Auslandspresse in Israel und Palästina (FPA) über den Vorfall.

Abu Akleh hatte einen "Presse"-Aufnäher auf ihrer Jacke getragen, der Reporter von weit her als Medienvertreter erkennbar macht. Die FPA fordert Israel zur schnellstmöglichen Aufklärung der Todesumstände auf und bemängelt, dass es bei früheren Fällen von Polizeigewalt gegen die Presse eine "unzufriedenstellende Bilanz" der Aufklärung gab.

Diskussion um Schuldfrage

Al Jazeera unterbrach seine Liveberichterstattung, um über den Tod der Korrespondentin zu berichten. Einem "unverschämten Mord" seitens der israelischen Besatzungskräfte sei Abu Akleh zum Opfer gefallen, meldete der Sender. Auch die Palästinenserbehörde sieht die Schuld eindeutig bei der israelischen Armee.

Ein Sprecher von Israels Streitkräften erklärte, es sei nicht auszuschließen, dass Abu Akleh durch die Kugel eines palästinensischen Scharfschützen zu Tode gekommen war. Dem widersprechen aber die Aussagen mehrerer anderer Journalisten, die zum Zeitpunkt des Vorfalls in Abu Aklehs Nähe waren. Laut ihnen hätten die israelischen Soldaten gezielt auf die Presseangehörigen geschossen. Der israelische Militärsprecher weist das vehement zurück. Die Armee spricht wiederum von "dutzenden Angreifern", die das Leben der israelischen Soldaten gefährdet hätten. Die Videos, die an die Presse ausgeschickt wurden, um diese Version zu belegen, zeigen allerdings Szenen von einem Ort, der laut der Menschenrechtsorganisation B'Tselem mehrere Hundert Meter vom Todesort von Abu Akleh liegt.

Schonungslose Aufklärung gefordert

Die getötete Reporterin war Doppelstaatsbürgerin, sie hatte auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Damit wird der Fall zudem zu einer Frage der diplomatischen Beziehungen Israels mit seinem wichtigsten Verbündeten. Washington fordert von Jerusalem eine schonungslose Aufklärung des Falls.

Das israelische Außenministerium sagte dies zwar zu, gab aber zu bedenken, dass die Palästinenserbehörde in Ramallah ein Ersuchen um gemeinsame Ermittlungen im Fall abgelehnt habe. Man könne somit nicht verifizieren, welche Munition bei dem tödlichen Schuss eingesetzt worden war.

Der Tod der Reporterin heizt die angespannte Lage in der Region weiter an. In Israel hat der Zwischenfall womöglich auch innenpolitische Konsequenzen: Die Regierung unter dem Rechtspolitiker Naftali Bennett steht vor dem Zusammenbruch. Ein Koalitionspartner, die konservativ-islamische Ra'am-Partei, ging nach dem Tod der berühmten palästinensischen Journalistin am Mittwoch jedenfalls auf Konfrontation mit Bennett: Eine "internationale Untersuchungskommission" müsse den Fall aufklären, fordert die Partei. Die Journalistin sei nichts weniger als eine "Märtyrerin". (Maria Sterkl aus Jerusalem, 11.5.2022)