Tarnung auf der Flucht: ein Anorak und ein Rucksack eines Essenslieferdienstes.

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Den neongrünen Anorak zugezippt, die Kapuze hochgezogen, den Schal über Kinn und Nase gelegt. Dazu der klobige Rucksack eines Essenslieferdienstes: In dieser Verkleidung schaffte es Maria Aljochina – als Sängerin der feministischen Punkrockband Pussy Riot zu weltweiter Bekanntheit gekommen – vor wenigen Tagen, unbemerkt aus ihrem Hausarrest in Moskau zu entkommen und in weiterer Folge über Belarus nach Litauen zu fliehen.

Denn in Russland ist es eng geworden für die 33-Jährige, nachdem die Justizbehörden ihr drohten, sie wegen öffentlicher Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine festzunehmen und in ein Straflager zu stecken. Schon vor zehn Jahren war Aljochina zusammen mit Bandkollegin Nadeschda Tolokonnikowa zu zwei Jahren Straflager verurteilt worden: Sie hatte in einer Kirche gegen Präsident Wladimir Putin protestiert. Ende 2013 wurden sie begnadigt und kamen unter Auflagen frei.

Zuletzt geriet Aljochina aber immer wieder mit der russischen Justiz in Konflikt. Im Zusammenhang mit Aufrufen zu Demonstrationen für den inhaftierten Kreml-Gegner Alexej Nawalny wurde sie im September 2021 zu einem Jahr Freiheitsbeschränkung verurteilt: So durfte sie ihre Wohnung nachts nicht verlassen. Seit Jahresbeginn wurde sie mehrmals festgehalten und verhört.

Wie die "New York Times" am Mittwoch berichtete, entschloss sich Aljochina gemeinsam mit ihrer Freundin Lucy Shtein dazu, Russland zu verlassen: Die Lage sei zusehends bedrohlich geworden – vor allem, nachdem die Frauen an ihrer Wohnungstür einen Zettel vorgefunden hatten, auf dem sie als "Verräterinnen" beschimpft wurden.

Geschmuggelte EU-Dokumente

Shtein probierte den Trick mit der Verkleidung schon vor einem Monat: Er funktionierte, sie konnte das Haus unerkannt verlassen. Aljochina tat es ihr gleich und gelangte bis an die belarussische Grenze, die sie beim dritten Versuch schließlich überqueren konnte. Hilfe erhielt sie eigenen Angaben zufolge von Ragnar Kjartansson, einem befreundeten isländischen Performancekünstler. Wie Aljochina der "New York Times" erzählte, habe Kjartansson die Regierung eines namentlich nicht genannten EU-Landes dazu überreden können, die Flüchtende mit Reisedokumenten auszustatten. Diese seien nach Belarus geschmuggelt und an Aljochina übergeben worden.

Weiter ging die abenteuerliche Flucht per Autobus. Sie habe lachen müssen, als sie sah, um wie viel besser sie plötzlich behandelt wurde, bloß weil sie plötzlich "EU-Bürgerin" war, erzählte sie der US-Zeitung. "Es klingt alles nach einem Spionageroman."

Im Nachhinein macht sich Aljochina fast lustig über den russischen Sicherheitsapparat: "Von hier aus sieht er aus wie ein großer Dämon – aber von innen betrachtet ist er sehr desorganisiert. Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut."

Jetzt lebt Aljochina im Exil in Litauen. "Wenn dein Herz frei ist, ist es egal, wo du bist", sagte sie der "New York Times". Aber natürlich hoffe sie, nach Russland zurückkehren zu können. Wann immer das sein möge. (Gianluca Wallisch, 11.5.2022)