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Die Hisbollah kann noch immer ihre Anhänger und Anhängerinnen mobilisieren. Eine schwache Wahlbeteiligung fürchtet aber auch sie.

Foto: AP / Hussein Malla

Er steht nicht mehr zur Wahl und sorgt gerade deshalb für eines der großen Fragezeichen bei den libanesischen Parlamentswahlen am Sonntag: Saad Hariri, Sohn des 2005 bei einem Anschlag in Beirut ermordeten Mehrfachpremiers Rafiq Hariri und selbst wiederholt Regierungschef, zuletzt bis Jänner 2020, hat sich nach eigener Aussage für immer aus der Politik zurückgezogen. Seine zuvor unter den Sunniten führende Partei Mustaqbal (Zukunft) ist seitdem im Chaos, teilweise boykottiert sie den Urnengang, einzelne Vertreter – auch Hariris Parteivize, Mustapha Alloush – haben sich abgesetzt.

Das ist mehr als nur ein internes Problem: Der Premier muss laut libanesischer Verfassung ein Sunnit sein. Traditionellerweise versucht das mächtige Saudi-Arabien, über diesen Mann Einfluss auszuüben, um dem Iran und seinem libanesischen Klienten, der schiitischen Hisbollah, etwas entgegenzuhalten.

Dass Hariri nicht mehr will, hat nicht zuletzt etwas mit seinem schwierigen Verhältnis zum saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MbS) zu tun, der ihn im November 2017 ja sogar in Riad festhielt, bis ihn der französische Präsident Emmanuel Macron herausholte. MbS hat sein libanesisches Spielzeug kaputtgemacht, jetzt schimpfen die saudischen Medien auf den "politischen Schiiten" Hariri. Er wird aufgefordert, die Sunniten zu mobilisieren, auch wenn er selbst nicht mehr antritt. Die Angst besteht, dass, wenn sich die sunnitischen Wähler verlaufen, der nächste Premier ein Hisbollah-naher Sunnit werden könnte.

Kollabierender Staat

Das ist die regionale Dimension, die derzeit auch bei einem iranisch-saudischen Dialog auf dem Tisch liegt. Er weckt Hoffnungen auf einen Ausgleich zwischen saudischen und iranischen Interessen nicht nur im Libanon, sondern auch im Jemen, Irak und Syrien. Darüber darf nicht vergessen werden, worum es für die Libanesen und Libanesinnen bei diesen Wahlen geht. Sie versuchen in einem bankrotten Staat, der die grundlegendsten Dienstleistungen nicht mehr garantieren kann, zu überleben. Viele wollen nur mehr weg: Zur seit Jahrzehnten laufenden Emigration kommt nun eine regelrechte Fluchtbewegung, wie das Ende April vor der Küste gekenterte Flüchtlingsboot mit sechs Toten zeigte.

Hariris Rücktritt erfolgte nach der großen Protestwelle, die im Herbst 2019 losbrach, und zwar mit dem Slogan "Alle heißt alle": Gemeint war, dass wirklich alle Politiker und Politikerinnen des alten konfessionellen, in Korruption und Bereicherung versunkenen Quotensystems sich schleichen sollten. Davon ist der Libanon weit entfernt, wie auch die seitdem erfolgten Regierungsbildungen zeigten, die letzte – 13 Monate dauernde – nach der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut im August 2020. Auch Hariri hatte es noch einmal versucht, war jedoch gescheitert.

Die Wahlen am Sonntag sind die ersten, bei denen Persönlichkeiten aus der Thawra (Revolution) von 2019 antreten. Die Chancen, dass sich grundlegend etwas ändert, sind jedoch beschränkt, aus mehreren Gründen.

Vor allem hat sich – wie so oft bei Protestbewegungen – herausgestellt, dass nur eine Einigung darüber besteht, was man nicht will. Es gibt keine einheitlichen Konzepte etwa zu Wirtschaftsfragen, und ergo auch keine einheitliche Liste. In manchen Wahlbezirken – zum Beispiel in Beirut I – stehen Thawra-Exponenten zueinander in Konkurrenz. Dazu kommt, dass sich ein paar alte Gesichter eingeschlichen haben und nun mit dem Etikett Thawra antreten.

Wahlbeteiligung

Die Frage am Sonntag wird sein, ob die Wahlberechtigten zu den Urnen gehen. Das ist durchaus auch eine Herausforderung für die relativ stabile Hisbollah, noch mehr jedoch für die kleine, aber ältere Schiitenpartei Amal, die bisher mit Nabih Berri – seit dreißig Jahren – den Parlamentspräsidenten stellt. Die Hisbollah setzt sich, taktisch klug, in ihrem Wahlkampf auch für ihre Verbündeten aus anderen Konfessionen ein. Das ist besonders wichtig für die schwächelnde Maronitenpartei FPM (Free Patriotic Movement) von Staatspräsident Michel Aoun, der inzwischen dessen unbeliebter Schwiegersohn Gibran Bassil vorsteht. Er steht wie die Hisbollah – und wegen seiner Verbindungen zu dieser – unter US-Sanktionen. Von der FPM-Schwäche könnten wiederum die Forces Libanaise von Samir Geagea profitieren.

Der Premier ist Sunnit, der Parlamentspräsident Schiit, der Staatspräsident maronitischer Christ: Aouns Mandat läuft im Oktober ab, dann wird auch eine Präsidentenwahl im ebenfalls nach konfessionellen Quoten besetzten Parlament fällig. Vor der Einigung auf Aoun im Oktober 2016 lagen zweieinhalb Jahre präsidentielles Vakuum.

Die Weltbank hat die libanesische Wirtschafts- und Finanzkrise unter die global schlimmsten der letzten 150 Jahre gereiht: Um Hilfe vom Internationalen Währungsfonds (IMF) zu bekommen, muss Beirut eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Der IMF hat im April drei Milliarden US-Dollar für die nächsten vier Jahre zugesagt. Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn das Loch – das auch keine Geberkonferenz füllen kann – hat sich mittlerweile auf mehr als 70 Milliarden erweitert. (Gudrun Harrer, 13.5.2022)