Insgeheim denkt wohl fast jeder, dass vergessene Autoren selbst schuld seien, weil sie eben doch nicht ganz so gut waren. Literaturgeschichtlich stimmt das nachweislich nicht. Fitzgerald war eine Zeitlang fast vergessen, ebenso Faulkner; Kafka kam bekanntlich zu Lebzeiten überhaupt nicht durch und steht erst post mortem als Fixstern am Firmament.

Und bei den Frauen ist es noch viel schlimmer, eine einzige Missachtungskatastrophe. Im Grunde müssten wir die meisten großen Autorinnen, von Virginia Woolf und Ingeborg Bachmann abgesehen, quasi zum ersten Mal entdecken, weil sie nie richtig gewürdigt wurden.

Präzise Anschaulichkeit, feiner Witz und ein direkter Zugriff: Mechtilde Lichnowsky.
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So auch Mechtilde Lichnowsky: eine Stilistin hohen Ranges, und das ist ja das Wichtigste, was über Schriftsteller zu sagen ist – wie sie schreiben und nicht worüber. Frisch und originell springt einen Lichnowskys Sprache bis heute an, man kommt aus dem Eselsohren-Knicken gar nicht heraus: "Auf dem Weg zur Jannowitzbrücke musste ich noch einen Hausmeisterwutanprall bestehen."

Oder über eine Landschaft: "Alles liegt in feinen schwedischen Handschuhtönen." Oder, Wahrheit und Aphorismus zugleich: "Das Tier kennt keine Erotik, nur eine einwandfreie, konfliktlose Geschlechtswahl." Oder über eine Beziehung, wie sie jeder kennt: "Zuweilen schmollt sie, er muss sie entschmollen."

Schreibende Gräfin

An diesen Beispielen zeigen sich ihre Talente: präzise Anschaulichkeit, gepaart mit feinem Witz, und ein ebenso direkter wie kreativer sprachlicher Zugriff. Ihre Prosa ist wendig, gelenkig und frei von den Graubrotstellen, die die Mutlosen so gern benutzen, weil sie sich hinter all dem Pappmaché aus Floskeln geschützt fühlen vor jedem Risiko.

Besonders geglückt ist das in Lichnowskys Buch An der Leine, fast einer Autobiografie, elegant gespiegelt im Porträt ihres intelligenten Dachshundes Lurch. Einen "kleinen Gott der Sorglosigkeit, das Symbol des Normalen ohne Trivialität und der Tugend ohne Moral" nennt seine Herrin ihn, aber dieses Zitat umfasst im Grunde das ganze Buch, ein funkelndes Kleinod, gleichzeitig fast ein Lehrbuch der Beschreibungskunst.

Wenn sie so gut, ungewöhnlich, plastisch ist wie hier, würde man – Gedankenspiel, angeregt von unserer unheimlichen Digitalmoderne – ein Foto oder gar Filmchen des realen Tieres wohl ungeduldig zur Seite schieben, um eben weiter zu: lesen. So sehr kitzelt ihre Sprache den eigenen Vorstellungsapparat und regt ihn an, ein Genuss, der sich von banalem Glotzen nicht stören lassen möchte.

Mechtilde Lichnowsky wurde 1879 als Gräfin von und zu Arco-Zinneberg in Bayern geboren und war eine Urururenkelin der Kaiserin Maria Theresia. Sie heiratete den deutlich älteren Fürsten Karl Max von Lichnowsky (1860–1928), einen deutschen Diplomaten im Dienste Kaiser Wilhelm des II., der als Botschafter in London vergeblich versuchte, den Ersten Weltkrieg zu verhindern. Ihre umfassende Bildung – nicht als Protz, sondern als fröhlich angewandter Reichtum der Verweise und Assoziationen – ist Treibstoff ihres Denkens.

Strahlendes Zentrum

Sie verfügte über eine profunde bildnerische wie musikalische Ausbildung und muss hervorragend Klavier gespielt haben, sie vertonte für Karl Kraus Nestroy-Couplets, die er bei seinen Rezitationsabenden einsetzte. Sie scheint ein bockiges und hochbegabtes Mädchen gewesen zu sein, wie sich ihrem bezaubernden autobiografischen Roman Kindheit entnehmen lässt. Nach den ersten Jahren in maximaler Freiheit auf dem Schloss ihrer Eltern, inmitten einer Schar von Geschwistern und mit vielen Tieren, wurde sie, in scharfem Gegensatz, in eine Klosterschule geschickt.

Schon dort scheint sie mit kleinen Schreibskizzen angefangen zu haben, boshaften Porträts ihrer Schulkameradinnen sowie schwärmerischen von manchen der jüngeren Nonnen. Als junge Ehefrau und Mutter von drei Kindern in London wurde sie zum strahlenden Zentrum eines Salons und engagierte sich als Mäzenin für in Not geratene Künstler. Rilke gehörte ebenso zu ihren Schützlingen wie der morphiumsüchtige Johannes R. Becher.

Und sie hatte in mehrerlei Hinsicht das absolute Gehör: Nicht nur als Musikerin, sondern für die semantischen und die gesellschaftlichen Zwischentöne. Schlampige Formulierungen aus der Zeitungslektüre ("Der Mangel an Verständnis, dem er begegnete …") kommentierte sie boshaft: "Ich kann vis-à-vis rien stehen; ‚Rien‘ kann aber nicht spazieren gehen und mir begegnen."

Ausgleichendes Element

Der Ärger über unsaubere Sprache verband Mechtilde Lichnowsky mit ihrem Lebensfreund Karl Kraus. Die Widmung von Worte über Wörter, ihrer Studie über Sprache und Stil, lautet "In Freundschaft dem damals lebenden Karl Kraus gewidmet, und heute dem unsterblichen". 1949, als der Band erschien, war Kraus so vergessen, wie Lichnowsky es heute ist. Seine Wiederentdeckung hat sie nicht mehr erlebt, als sie neun Jahre später vereinsamt in London gestorben ist. Im August 1921 hatte er ihr das Leben gerettet, als sie beim Schwimmen in der Moldau von einem Strudel in die Tiefe gezogen wurde.

Die Beziehungen zwischen ihm, seiner langjährigen Freundin Sidonie Nadherny und Lichnowsky sind nicht leicht zu durchschauen. Einerseits waren die beiden adeligen Frauen befreundet und standen in regem Briefwechsel; Mechtilde fungierte als Mittlerin zwischen den beiden, als ausgleichendes Element. Andererseits gibt es ein Gedicht auf sie aus einer Zeit, als Kraus sich von Sidonie vorübergehend entfremdet hatte, mit dem beziehungsvollen Titel Du seit langem einziges Erlebnis.

Schmerzliches Lebensthema

Bei aller Verehrung für Kraus stieß gerade er Lichnowsky immer wieder auf ein schmerzliches Lebensthema. Denn er goutierte schreibende Frauen grundsätzlich nicht. Und sie rang beständig mit der untergeordneten Rolle, aus der selbst hochtalentierte Frauen damals nicht entkommen konnten.

Überdies – und damit bezeichnet sie von heute aus gesehen einen besonderen Moment in der Geschichte weiblicher Selbstwahrnehmung – war sie selbst noch so halb von dem Mythos überzeugt, mit dessen Hilfe sich das Patriarchat so lange halten konnte: dass Frauen biologisch unterlegen seien, etwa weil sie ein messbar "kleineres Hirn" hätten, wie es in ihrem Roman Geburt einmal heißt – in dem sich auch ein Schlüsselporträt von Karl Kraus verbirgt.

Es ist eine bestürzende Erkenntnis: Hier war sich eine der begabtesten und gebildetsten Frauen ihrer Zeit offenbar ihr Leben lang nicht ganz sicher, ob sie wirklich dem trauen konnte, was sie täglich wahrnahm – nämlich sich selbst im qualitativen Vergleich zu intellektuellen Männern.

Und so ist ihr Werk von dem klassischen Antagonismus zwischen "weiblich-emotionalen" und "intellektuell-vernünftigen", also eher "männlichen", Frauen durchzogen. Nun bleibt die Frage, wie sehr Frauen männliche Strategien übernehmen sollten, um Gleichberechtigung zu erreichen, weiterhin vertrackt, trotzdem ist diese Dichotomie, mit der Lichnowsky sich tröstete, so unfair wie banal. Zum Glück gibt es inzwischen weitaus mehr Formen weiblicher Identität.

Geschlechterfragen

Das Thema ist in ihren Texten jedenfalls immer präsent: "Der Kritiker hat schnurgerade an das Werk heranzugehen, ohne das Geschlecht des Künstlers besonders zu erwähnen, das ohnehin an dessen Namen zu erkennen ist; so geschieht es überall, ausgenommen in Deutschland, wo die Vorliebe für gewisse Spezialitäten (u. a. immer wieder von Büchern einerseits, von Frauenbüchern andererseits zu sprechen; Männerbücher gibt es gottlob nicht) unausrottbar zu sein scheint." In der heutigen Gendersprachen-Debatte wäre das eher die englische Variante, die geschlechtsneutrale Formen bevorzugt.

Biografisch passt dazu, dass die Autorin nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes mit Geldsorgen zu kämpfen hatte – alles Vermögen ging erbrechtlich auf den erstgeborenen Sohn über, von dessen Großzügigkeit daraufhin der Lebensstandard seiner verwitweten Mutter abhing.

Ohne Mann war und galt man nichts in dieser Zeit, ganz egal, wie gut man denken, schreiben, malen und komponieren konnte. Tragisch endete auch ihre zweite Ehe: Mechtilde Lichnowsky, inzwischen englische Staatsbürgerin, wurde als erklärte Nazi-Gegnerin ab 1939 bis zum Kriegsende an der Ausreise aus Deutschland gehindert – ihr zweiter Mann Ralph Petö starb 1945, bevor sie endlich freikam.

Lebensthema

Die Ungerechtigkeit, als begabte Frau auf die Welt gekommen zu sein, war das Lebensthema dieser ungewöhnlichen Schriftstellerin, bei der sich dennoch viele wunderbar klare Stellen über die Liebe finden; immer in der für sie typischen Mischung aus analytischer Klarheit und tiefem Gefühl, das bei ihr musikalisch über Ton, Rhythmus und Wortwahl transportiert wird: "Jung sind sie beide nicht – liebend aber wurden sie zwanzig, obwohl sie doppelt so alt waren. Das Köstlichste einer solchen Liebe ist das Jungwerden und Nichtblindsein; das wundervolle Wartenkönnen, wenn der sonst auf die Minute pünktliche Geliebte durch Pflichten abgehalten ist; die ruhige Sicherheit gegenseitiger Hochachtung; die Einbeziehung des ganzen Lebens mit all seinen kleinen und großen Teilen in die Zusammengehörigkeit." Nun wird dieses verschüttete Werk vom Zsolnay-Verlag und der Wüstenrot-Stiftung wieder zugänglich gemacht. (Eva Menasse, Vorabdruck, ALBUM, 15.5.2022)